Der tiefgefrorene Permafrostboden in der Arktis taut in erschreckendem Ausmaß. Das haben Forschenden des Alfred-Wegener-Instituts jetzt durch die Auswertung von Satellitenbildern eindrücklich bestätigt: Schmelzwasserseen in Alaska laufen reihenweise aus, weil der Boden immer weicher wird. Das Ausmaß des Seen-Kollapses war in der Saison 2017/2018 so extrem, wie Wissenschaftler es eigentlich erst für das Ende dieses Jahrhunderts erwartet hätten. Das Permafrostgebiet in der Region um die Stadt Kotzebue in Alaska ist übersät mit vielen Hundert Schmelzwasserseen. Diese entstehen, wenn der Permafrostboden antaut und absackt. In den Vertiefungen sammelt sich dann das Schmelzwasser aus dem Boden oder des Schnees, der im Winter fällt. Solche Seen sind nichts Neues.
Manche sind schon mehrere Tausend Jahre alt und nach dem Ende der letzten Eiszeit entstanden. In jüngster Zeit aber ist Bewegung in die Seenlandschaft gekommen, weil die Winter dort immer öfter vergleichsweise milde ausfallen. Der Permafrostboden taut im Sommer stark auf und friert selbst im Winter nicht immer komplett wieder zu, sodass die Ufer der Seen instabil werden und brechen. Die Seen laufen aus.
Ein besonders extremes Ereignis haben Wissenschaftler des Alfred-Wegener-Instituts, Helmholtz-Zentrum für Polar- und Meeresforschung (AWI) in der Saison 2017 und 2018 beobachtet: Innerhalb eines Jahres liefen so viele Seen aus, wie nie zuvor – rund 190 Stück. „Das Ausmaß hat uns erschreckt“, sagt der AWI-Geograph Ingmar Nitze. „Der Winter 2017/2018 war sehr feucht und warm. Es herrschten Bedingungen, die unsere Klimarechenmodelle für das Ende dieses Jahrhunderts als Normalzustand vorhersagen. Wir konnten gewissermaßen in die Zukunft sehen. Das Schmelzen wird dann katastrophale Ausmaße erreicht haben.“
Wie Ingmar Nitze zusammen mit seinen Mitautorinnen und -autoren jetzt im Fachmagazin Cryosphere schreibt, lag die durchschnittliche Temperatur in der Saison 2017/2018 rund fünf Grad Celsius über dem langjährigen Durchschnitt. Im Winter herrschten um Kotzebue normalerweise bis zu minus 20 Grad – in dieser Saison lag die Temperatur über viele Tage 10 bis 20 Grad darüber. Außerdem gab es aufgrund der feuchten Luft sehr viel Schnee.
Da Schnee den Boden im Winter gegen die kalte Luft isoliert, gefror der im Sommer angetaute Permafrost auch während des relativ milden Winters nicht ausreichend. Zum Auslaufen der Seen führte dann eine Verkettung verschiedener Faktoren. Zum einen waren die Ufer der Seen weich und instabil, sodass sie leicht brechen konnten. Zusätzliche erhöhte das viele Schmelzwasser aus den tauenden Schneemassen den Druck auf die Ufer.
Hinzu kam, dass das Wasser leichter abfließen und regelrechte Flutrinnen in den aufgetauten Boden fressen konnte. „Die Seen sind mit einem bis drei Metern Tiefe relativ flach und laufen entsprechend schnell aus“, sagt Ingmar Nitze. Da die Region sehr dünn besiedelt ist, sind glücklicherweise keine größeren Schäden entstanden. Darum gehe es auch nicht, sagt der Forscher. „Dieses Auslauf-Ereignis zeigt einfach, welche extremen Ausmaße die Erwärmung in der Arktis in den kommenden Jahrzehnten annehmen wird. Vor allem aber, dass es solche Extremereignisse nicht erst Ende dieses Jahrhunderts geben wird, sondern schon heute und in den kommenden Jahren.“ Das sei bedenklich, weil die im Permafrostboden gespeicherte uralte Pflanzenmasse frei wird und so von Mikroben abgebaut werden könne. Der in den Pflanzen enthaltene Kohlenstoff werde als Kohlendioxid frei und verstärke nun seinerseits den Treibhauseffekt – ein Teufelskreis.
Für die Studie hatten Ingmar Nitze und seine Kolleginnen und Kollegen Satellitenbilder der Region um Kotzebue ausgewertet. Auf den Aufnahmen lassen sich gefüllte und leere Seen sehr gut voneinander unterscheiden. Auch ist sehr gut erkennbar, wann die Seen beginnen auszulaufen. Der Winter 2017/2018 war in der Region der wärmste seit Beginn der Aufzeichnungen an der Station Kotzebue im Jahr 1949.
Deshalb hatten die Experten erwartet, dass mehrere Seen auslaufen würden. Mit diesem Ausmaß aber hatten sie nicht gerechnet. „In den milden Jahren 2005 und 2006 waren schon einmal viele Seen ausgelaufen – diesmal waren es aber sogar doppelt so viele.“ Und das sei bedenklich, denn damit schrumpfe das Potential des Permafrostbodens, große Mengen an Kohlenstoff zu konservieren, erschreckend schnell.