Marine Wirkstoffe haben ein enormes Entwicklungspotenzial als lebensrettende Medikamente, z.B. in der Krebstherapie oder zur Behandlung viraler Infektionen. Dem gegenüber steht ein langwieriger und teurer Entwicklungsprozess vom marinen Wirkstoff bis zum zugelassenen Medikament. Ein internationales Team mit Beteiligung des GEOMAR Helmholtz Zentrums für Ozeanforschung Kiel fordert nun bessere Strategien und langfristige finanzielle Unterstützung bei der Erforschung mariner biologischer Ressourcen. In der renommierten Fachzeitschrift Natural Product Reports plädiert das Team für mehrere Lösungswege zur Beschleunigung der Naturstoffforschung, darunter auch für Wirkstoffe gegen COVID-19.
Mehr als die Hälfte der zugelassenen Medikamente, vor allem Antiinfektiva und Krebsmedikamente, stammen aus Naturstoffen, d.h. kleinen organischen Molekülen, welche von Lebewesen produziert werden. Bislang wurden über bereits 400.000 Naturstoffe identifiziert, von denen 10 % aus marinen Organismen oder deren mikrobiellen Symbionten stammen.
Marine Moleküle verfügen häufiger über neuartige chemische Grundstrukturen und besitzen eine ca. 4-mal höhere Chance für die Medikamentenentwicklung als ihre terrestrischen Gegenstücke. Trotz ihrer vergleichsweise kurzen Forschungsgeschichte sind bereits ca. 15 Medikamente auf Basis mariner Naturstoffe zugelassen und werden in der Klinik eingesetzt. Allerdings ist die Pipeline von der Entdeckung mariner Wirkstoffe bis zur Entwicklung und Zulassung von Medikamenten lang, riskant, teuer und leidet unter chronischer Unterfinanzierung, so dass die Ozeane für biomedizinische Studien bisher oft ungenutzt bleiben.
Ein internationales Team, dem auch Professorin Dr. Deniz Tasdemir vom GEOMAR angehört, fordert dringende Investitionen und eine bessere Strategie für die Erforschung und Nutzung der biologischen Ressourcen der Meere im Hinblick auf ihre chemischen Inhaltsstoffe als potenzielle lebensrettende Medikamente. „Die aktuelle COVID-19-Pandemie unterstreicht deutlich die Notwendigkeit von langfristigen Investitionen in Naturstoffe, da wir nur wenige Medikamente oder Medikamentenkandidaten in der Schublade haben“, sagt Prof. Tasdemir, die das GEOMAR Biotech-Labor am GEOMAR leitet. „Das allererste antivirale Medikament Ara-A wurde auf Basis eines kleinen Nukleosids entwickelt, das in den 1950er Jahren aus einem tropischen Schwamm extrahiert wurde, und gilt als Vorfahre fast aller heute genutzten antiviralen Medikamente“, so Tasdemir weiter. Mehrere marine Biomoleküle haben sich in der Vergangenheit als wirksam gegen Coronaviren (MERS, SARS) erwiesen; dies resultierte aber nie in verstärktem Interesse der Pharmaindustrie hinsichtlich ihrer Entwicklung zu Medikamenten.
„Das Leben im Meer existiert seit etwa 3,7 Milliarden Jahren, dreimal so lange wie das Leben an Land, was zu einer enormen Artenvielfalt führt. Dennoch sind bisher nur 10% aller marinen Arten beschrieben“, sagt Professorin Julia Sigwart, Biologin und Taxonomin am Senckenberg Forschungsinstitut. „Wir wissen weniger über unsere Ozeane als über die Mars-Oberfläche“, so die Wissenschaftlerin. Die Bereitstellung von Fördermitteln für Erforschung neuer mariner Lebensräume führt immer zur Entdeckung zahlreicher neuer mariner Arten. Aufgrund mangelnder taxonomischer Kapazitäten dauert jedoch allein die Zuordnung eines taxonomischen Namens zu einem neuen, bisher unbekannten Lebewesen im Durchschnitt 20 Jahre.
Die marine Wirkstoffforschung ist die Hauptsäule der marinen Biotechnologie
„Daher hat die Entwicklung von Pharmazeutika basierend auf marinen Organismen zum Teil über 40 Jahre gedauert“, sagt Prof. Tasdemir, Pharmazeutin mit über 25 Jahren Erfahrung in der Naturstoffchemie und Wirkstoffforschung. „Die marine Wirkstoffforschung ist die Hauptsäule der marinen Biotechnologie, hat aber aufgrund ihrer langwierigen und risikoreichen Natur eine niedrige Priorität bei der Forschungsfinanzierung durch öffentliche oder industrielle Mittelgeber.
Mit den üblichen auf 3-4 Jahren Förderdauer begrenzten öffentlichen Förderprogrammen sowie fehlendem Interesse der Industrie ist es unmöglich, marine Ressourcen vollumfänglich zu untersuchen und eine medizinische Verwertungskette zu entwickeln“, fährt sie fort.
„Aufgrund globaler Erwärmung und Verschmutzung ist die Artenvielfalt im Meer bereits stark zurückgegangen, bevor wir den Organismen überhaupt einen Namen gegeben haben, geschweige denn ihr biomedizinisches Potenzial erforscht haben. Das Fehlen langfristiger Investitionen und Förderprogramme für diese frühe Phase der Wirkstoffforschung und-entwicklung ist in jeder Hinsicht fatal “, sagt Prof. Tasdemir.
Das internationale Team, bestehend aus Forschern des Senckenberg Instituts, der Universität Stockholm, der Universität Aberdeen und des GEOMAR, hat konkrete Lösungswege vorgeschlagen, um die Pipeline der marinen Wirkstoffforschung zu erweitern und das Potenzial des „ozeanischen Genoms“ für das globale Gesundheitswesen zu nutzen:
- Langfristige und hochpriorisierte Investitionen öffentlicher Mittelgeber in die marine Wirkstoffforschung, einschließlich der frühen Phase der Entdeckung neuer Moleküle;
- enge Zusammenarbeit zwischen Wissenschaft und Industrie in allen Phasen;
- Schaffung neuer, verlässlicher Möglichkeiten weltweit für Nachwuchsforscher, die ein Engagement in risikoreicher Forschung ohne Karriererisiko erlauben;
- gemeinsame Nutzung von Daten und Wirkstoffbibliotheken in globalen Netzwerken; und
- Schutz der marinen Biodiversität im Ökosystem durch starke Naturschutzbemühungen.
Die Schätze des Ozeans haben bereits grundlegende Durchbrüche in der Gesundheitsversorgung ermöglicht, werden aber immer noch zu wenig zum Nutzen der Menschen eingesetzt. „Mit dem Beginn der UN-Dekade ‚Ozeanforschung für nachhaltige Entwicklung 2021-2030‘ ist es nun an der Zeit, gezielte und systematische Schritte zu unternehmen, um die gesamte Pipeline mariner Wirkstoffforschung zu unterstützen und vorhandene Engpässe zu beseitigen. Die von uns vorgeschlagenen Strategien können die Vielfalt der verfügbaren Lösungen für zukünftige globale Herausforderungen, einschließlich zukünftiger Pandemien, drastisch erhöhen“, so Professorin Tasdemir abschließend.