Der menschliche Faktor determiniert die Zukunft der Welt

Ein Interview mit Florian von Schreitter, Vice President Strategie der THOMSEN GROUP International Strategy Consultants

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Ein Interview mit Florian von Schreitter. Er war Entwicklungshelfer in Kamerun und unterstützt heute Unternehmen in der langfristigen strategischen Ausrichtung. Er spielt immer noch in der zweiten Bundesliga Feldhockey, fördert den Hockeysport in Kamerun und ist Autor des noch unveröffentlichten Buches „Vordenker. Unsere Zukunft braucht ein neues Bildungsideal“. In seinem Werk entwirft er ein Bildungsideal, dass sich stärker an den Herausforderungen (und Chancen) der Zukunft orientiert als am Status-Quo, und macht auch viele konkrete Verbesserungsvorschläge.


Corona und Klimakrise zeigen, dass die Menschen „die Welt nicht mehr verstehen“. Nach einer Menschheitsgeschichte, die, trotz vieler Rückschläge, von gesellschaftlichem und technischen Fortschritt gekennzeichnet war, stehen wir jetzt entweder intelligent verzweifelt oder dumm erkenntnisverweigernd und schauen dem Amazonas beim Brennen zu und den Polkappen beim Abschmelzen zu. Sind unsere geistigen Instrumente, unsere Bildung, nicht mehr einsatzfähig?

Sie haben recht: Unsere Welt ist komplexer und dynamischer geworden, während wir Menschen uns trotz neuen technologischen Möglichkeiten, globaler Vernetzung und Akkumulation von Wissen – ständig, überall und kostenfrei verfügbar – nicht in gleicher Geschwindigkeit mit unserem Bildungsideal adaptiert haben. Deshalb ist es mir wichtig, Bildung gänzlich neu zu denken! Weniger an der Vergangenheit und ihren großen Vordenkern orientierend, sondern mit viel stärkerem Blick auf die Herausforderungen der Zukunft. Hierbei denke ich beispielsweise an das Verhältnis von Mensch und Maschine, den Klimawandel oder die technologische Disruption, nicht zu sprechen von der ständigen nuklearen Bedrohung. Wir sollten begreifen, dass wir uns mitten im Anthropozän befinden, dem Zeitalter, in welchem wir Menschen exponentiellen Einfluss auf die natürlichen Prozesse der Erde genommen haben: Der menschliche Faktor determiniert die Zukunft der Welt!

Es gibt aber Menschen, die statt auf Bildung eher auf Vereinfachung setzten und damit ziemlich populär beziehungsweise populistisch geworden sind.

Die Welt zu betrachten als ein Ineinandergreifen von vernetzten und sich gegenseitig befruchtenden Ökosystemen, ist noch immer nicht allgemein anerkannt. Denn wir Menschen können die Komplexität und Wechselbeziehungen nie in Gänze verstehen. Das macht es Populisten so einfach durch bösartige Vereinfachung zu punkten. Was wir aber verstehen können ist, dass alle unsere Handlungen externe Effekte auslösen. Zum Beispiel in ökonomischen, ökologischen und sozialen Dimensionen. Sie haben also auch recht in Ihrer Annahme, dass Bildung, wie wir sie heute denken, nicht das richtige Ideal verfolgt, quasi nicht effizient ist. Denn Bildung zielt heute darauf ab, uns möglichst auf ein späteres Erwerbsleben vorzubereiten, statt uns mit ganzheitlichen Kompetenzen zu fördern.

An welche Kompetenzen denken Sie?

Dazu gehört erstens die Entscheidungsfähigkeit, also die Kompetenz selbständig Entscheidungen für sich und andere treffen zu können. Ich beobachte hier eine starke Abnehme in den letzten Jahren. Zweitens die Persönlichkeitsentwicklung. Denn die Tendenz geht stärker Richtung Standardisierung. Ich möchte aber, dass wir den Prozess der individuellen Charakterbildung fördern: Vielfalt statt Gleichheit. Und drittens die Selbstwirksamkeit, ein Begriff aus der Psychologie, der umgangssprachlich vielleicht mit „sich selbst etwas zutrauen“ zu beschreiben wäre.

Haben Sie ein Beispiel zum besseren Verständnis?

Nehmen wir exemplarisch den von Ihnen skizzierten Klimawandel als eine der zentralen Herausforderungen des 21. Jahrhunderts. Nationale Alleingänge werden keine Lösung herbeiführen, sondern nur globale Kooperationen, denn der Klimawandel macht nicht Halt an Landesgrenzen. Die Fähigkeit zur Kooperation ist aber in unserem heutigen Bildungsideal immer noch stiefmütterlich behandelt. Wir denken leider noch immer in Wettbewerbs- und Standortvorteilen, anstatt mit anderen Playern an gemeinsamen Lösungen zu arbeiten. Die positive Haltung gegenüber der Kooperation muss fest im Bildungsideal verankert werden!

Hört sich nach einem langen Weg an. Ein chinesisches Sprichwort besagt, dass auch ein solcher langer Weg mit einem ersten Schritt beginne. Und welche Richtung würde uns dieser erste Schritt dann führen?

 Während meiner Zeit als Entwicklungshelfer in Kamerun habe ich ein Sprichwort gehört, welches mich beeindruckt hat: „If you want to go fast, go alone. If you want to go far, go together.“ Ich hoffe, dass wir Menschen noch einige Jahre auf diesem Planeten verbringen dürfen. Also gilt es, schleunigst Zusammenarbeit zu lernen. Konkret empfehle ich den Schwung der Veränderung der Corona Pandemie mitzunehmen. Indem wir unsere puristische Wissensgesellschaft mit Vielfalt aufladen. Sie können sich das vorstellen wie bei einem Mischpult, an dem der DJ einen Regler bis aufs Maximum hochgeschoben hat. Das klingt scheußlich! So hört sich unser heutiger Bildungssound auch an. Wir konzentrieren uns viel zu stark auf die Replizierung von Wissen, vernachlässigen aber Bildungsvielfalt in anderen Dimensionen wie beispielsweise Fähigkeits- oder Herzensbildung. Fähigkeitsbildung umfasst die überwiegend haptischen Themen und das Erlernen von Vorgehensmodellen, während die Herzensbildung sich auf emotionale Aspekte konzentriert, beispielsweise den Umgang mit Angst.

Angst kann aber durch Bildung zunehmen. Die Komplexität um uns herum, die Endlichkeit, die Ohnmacht angesichts der Aufgaben können doch regelrecht zur Erstarrung führen?

Ja. Das sehe ich auch so. Deshalb ist mir die Herzensbildung auch so wichtig. Aber wenn ich von Herzensbildung spreche, dann meine ich nicht „Wissen“, sondern erleben und spüren. Das ist der Unterschied, dadurch erlernen wir einen besseren Umgang mit unseren Ängsten. Wir alle kennen nämlich das Gefühl der Angst und den Umgang damit in einer Selbsterfahrung zu schulen, erscheint mit obligatorisch. Ihre Frage hat aber noch eine zweite Komponente: Es ist wichtig, die Themen in händelbare Einheiten zu schneiden. Das ist das Kernelement einer repräsentativen Demokratie. Ich muss davon ausgehen, dass sich unser Außenministerium intensiver mit dem Syrienkonflikt beschäftigt, als ich das kann. Daher muss ich den gewählten Vertretern vertrauen, an meiner Stelle die besten Entscheidungen zu treffen. Das Gefühl, dass ein gewählter Volksvertreter meine Interessen in einem Parlament vertritt. Dieses Gefühl haben leider viele Menschen nicht mehr. Das ist mit ein Grund für das Erstarken von Protestparteien und Populisten.

Herzensbildung, ein Begriff über den man leicht in Grübeln kommt, als Impfstoff gegen Populismus klingt charmant. Aber viele unserer heutigen Probleme, wie beispielsweise der Klimawandel, benötigen doch auch naturwissenschaftliches Wissen.

Um die Herausforderungen des Verständnisses des Klimawandels zu verstehen, können wir eine Analogie bemühen. Wenn Sie zu einem Arzt gehen und eine Grippeschutzimpfung bekommen, dann nehmen Sie den Schmerz sofort wahr. Sie spüren sofort, dass etwas passiert. Oder wenn Sie 5€ beim Bäcker bezahlen, den merken Sie in Ihrem Portemonnaie sofort, dass Sie „ärmer“ geworden sind. Mit dem Klimawandel ist das anders. Sie merken erst sehr viel später, vielleicht sogar gar nicht, die Folgen ihres heutigen Handelns oder des Lebens in der Stadt. Etwa bei einer Lungenkrankheit aufgrund von jahrzehntelangem Einatmen von Feinstaub. Deshalb sollten wir die gefühlte Ohnmacht sensibel behandeln und möglichst erlebbare Geschichten erzählen lernen. Wir sollten beginnen, Veränderungen positiv statt negativ zu konnotieren. Denn aus der Verhaltensforschung wissen wir, dass ein Großteil aller menschlichen Entscheidungen emotional und nicht rational getroffen werden und kurzfristige Effekte höher bewertet werden als langfristige Effekte. Klar, die Spritze tut sofort weh, die Lungenkrankheit erst in einer sehr abstrakten Zukunft.

Um die Welt besser zu verstehen reichen dann Fakten und eine durch die Wissenschaft geprägte Sicht nicht mehr aus?

Fakten und Wissenschaft allein reichen nicht aus, wir sollten zum Beispiel auch an unserer Haltungsbildung arbeiten. Diese wird von entscheidender Bedeutung sein. Denn in der Haltungsbildung soll es darum gehen, die eigene Rolle in der Welt besser zu verstehen. Weiß zu sein oder einen deutschen Pass zu haben bedeutet etwas, wir können nämlich mehr oder weniger überall hinreisen, ohne Einschränkungen befürchten zu müssen. Das ist für meine Freunde aus Kamerun leider nicht der Fall. Daher muss der erste Schritt in Richtung eines pluralen Bildungsverständnisses führen. Damit natürlich auch zu einer Akzeptanz von anderen Systemen. Das schafft Bewusstsein und Toleranz auf gesellschaftlicher Ebene. Im nächsten Schritt gilt es dann, die klassischen Bildungsinstitutionen durch flankierende Elemente aufzuladen.

Haben Sie Beispiele dafür?

Nehmen wir beispielsweise das Fremdsprachenlernen. Es kann durch Immersion forciert werden. Immersion bedeutet, eine Sprache ohne Übersetzungen zu lernen, also in der anderen Sprache zu denken. Dazu könnten wir weltweite digitale Sprachklassen pilotieren, in denen Schüler unterschiedlichster Nationen beispielsweise Spanisch zusammen lernen. Oder um ein ganz anderes, vielleicht überraschendes, Beispiel zu nehmen: Sportvereine könnten auch als Bildungsinstitutionen verstanden werden. Heute sind viele Sportvereine chronisch unterfinanziert. Wir könnten die Sporttrainer besser ausbilden und auch Beitragssätze erschwinglich machen. Denn im Sport kann man unter anderem ganz viel über Teamplay und Mannschaftsgefüge lernen.

Wenn wir das Lernen so zu einer alltagserfüllenden Aufgabe machen, müssen wir dann auch strukturelle Veränderung in Gesellschaft und Wirtschaft angehen? Und wenn ja woran denken Sie hier?

Wir geben die Regeln vor. „Wir“ schließt dabei Sie und mich genauso ein, wie die Wähler, die Politik und die Gesellschaft insgesamt. Stellen Sie sich vor, dass Sie ein Turm, der nur horizontal und vertikal laufen darf, auf einem Schachbrett sind. Das Regelwerk gibt Ihnen vor, dass Sie sich nur in diese Richtungen bewegen dürfen. Und der Turm ist im Vergleich zu den Bauern, die sich normalerweise nur ein Feld bewegen dürfen, noch privilegiert. Viele Menschen fühlen sich eher wie Bauern in unserem System. Statt das System aber zu akzeptieren, sollten wir kontinuierlich an einer Verbesserung arbeiten. Da hilft uns der Blick nach Neuseeland. Die Premierministerin Jacinda Arden – übrigens die erste Staatchefin der Welt, die während ihrer Amtszeit ein Kind bekommen hat – präsentierte im Mai 2019 das erste Wellbeing Budget. Unter anderem werden Kinderarmut, Ungleichheit und Klimawandel direkt adressiert, das finde ich richtig.

Wenn ich Sie richtig verstehe plädieren Sie für eine Art neuen Humanismus jenseits Adam Smith und Karl Marx?

Wenn Sie neuen Humanismus definieren als den Wunsch, technologischem Fortschritt positiv zu begegnen und gleichzeitig den Anspruch nach einem klaren Nutzenvorteil für Mensch und Umwelt gleichermaßen zu formulieren, dann ja. Technologie muss Umwelt, Mensch und Gesellschaft dienen. Und über Adam Smith sind wir, glaube ich, weit hinaus, nicht erst seit Ludwig Erhard und Alfred Müller-Armack, die wesentlich zur Implementierung der Sozialen Marktwirtschaft beigetragen haben. Während Smith sich – zu seiner Zeit – auf die Vergrößerung des Kuchens konzentrierte, haben die Wirren des Manchesterkapitalismus, der noch heute als Inbegriff für Profitgier genutzt wird, und das Aufkeimen der Sozialen Frage im späten 19. Jahrhundert Veränderungen nötig gemacht. Denn in der Realität zeigten sich die Schwächen der freien Marktwirtschaft, insbesondere in der Verteilungsgerechtigkeit. Die Soziale Marktwirtschaft reicht heute nicht mehr aus, stattdessen brauchen wir brauchen eine Ökosoziale Marktwirtschaft, also ein marktwirtschaftliches System, in dem Ökonomie, Ökologie und Soziales gleichermaßen und zeitgleich betrachtet werden. Denn nicht nur ökonomische und soziale Aspekte sollten in der Politik eine Rolle spielen, sondern auch ökologische. Herr Prof. Radermacher, der als Vater der Ökosozialen Marktwirtschaft gilt, setzt sich mit seiner Forschung für eine gerechtere Globalisierung ein und ist Mitglied des Club of Rome.

Jetzt aber doch noch zu Karl Marx.

Mit Karl Marx verhält es sich etwas anders. Studien gehen davon aus, dass 80% der heutigen Arbeiten bis 2030 durch Maschinen durchgeführt werden können. Zahlreiche Menschen werden in der Folge ihren heutigen Job verlieren und in die Arbeitslosigkeit rutschen. Nicht nur in der industriellen Produktion, sondern auch in der Wissensarbeit. Aber auch neue Beschäftigungsformen, die wir heute noch gar nicht kennen, werden entstehen, beispielsweise im Bereich der Verwaltung von personenbezogenen Daten. Statt einer Welle von Arbeitslosigkeit wird so, bei richtiger Moderation, eine Welle von neuen Beschäftigungsformen entstehen können. Ich halte daher nichts, davon dieser Entwicklung mit reaktionärer und bewahrender Politik zu begegnen, sondern mit progressivem Gestaltungswillen.

Gestaltungswille allein reicht aber nicht aus. Es muss ja auch eine Richtung und es muss Ziel geben.

Ich glaube, wenn wir heute die Weichen richtigstellen, dann helfen uns die Maschinen sogar, um unserem Leben wieder einen übergeordneten Sinn zu verleihen und unsere Beschäftigung im Sinne aller einzusetzen. Denn die entfremdeten und pervertierten Arbeitsformen – wie Karl Marx sie nennt -, die sich im Kapitalismus ausgeprägt haben, werden dann von Maschinen ausgeführt werden können. Menschen müssen nicht mehr stundenlange monotone Tätigkeiten ausführen. Schauen Sie sich nur die Zustände in der Fleischindustrie an, die momentan am Pranger stehen. Wir sollten uns mit zwei Fragen beschäftigen: (1) Welche positiven Folgen kann es haben, dass uns Roboter Aufgaben, die einen repetitiven Charakter haben und ohne großen Spaß durchgeführt werden müssen, abnehmen? (2) Welche Aufgaben, im Sinne von Beschäftigung, können die freigewordenen menschlichen Arbeitskräfte übernehmen? Daher ist es wichtig, um über das Bildungsideal des 21. Jahrhunderts nachzudenken, zu verstehen, wie sich der Begriff der Arbeit verändern wird. Nur ein kurzes Beispiel: Roboter und Algorithmen sind Maschinen, wir Menschen sind soziale Wesen, kreativ und empathisch. Diese und weitere Fähigkeiten sollten unbedingt gefördert werden für eine gute Zukunft.

Lieber Florian von Schreitter, vielen Dank für das Gespräch!