Leipzig ist eine schnell wachsende Großstadt. Doch die rasante Entwicklung wirft Fragen auf – zum Beispiel, ob die urbanen Wasser- und Energieinfrastrukturen den zusätzlichen Anforderungen des Klimawandels überhaupt gewachsen sind. Für das größte neue innerstädtische Stadtquartier, das in den kommenden Jahren in Leipzig entstehen soll, koordiniert das Helmholtz-Zentrum für Umweltforschung (UFZ) ein bundesweites Modellprojekt, in dem Technologien entwickelt werden, mit denen Niederschlagswasser sinnvoll genutzt und gemanagt werden kann. Auf einem 25 Hektar großen Areal soll in den nächsten Jahren unter dem Namen „Leipzig 416“ das größte innerstädtische Stadtquartier Leipzigs für etwa 3.700 Menschen entwickelt werden – inklusive Parks, Schul- und Sportcampus, Büros sowie kulturellen und sozialen Einrichtungen.
Stadt und Investor wollen hier nicht nur bezahlbaren Wohnraum schaffen, sondern den Stadtteil auch nach ökologischen Kriterien aufbauen. Ressourceneffizienz im Hinblick auf den Umgang mit Energie und Wasser im Quartier spielt dabei eine entscheidende Rolle. Denn im Spannungsfeld der zu erwartenden Zunahme der Häufigkeit von Starkregen und Dürre wird es immer wichtiger, Wasser in der Stadt dezentral und gemäß einem natürlichen Wasserhaushalt zu managen. Die Konzepte dafür entstehen in Leipzig in enger Zusammenarbeit vieler Akteure aus Wirtschaft, Verwaltung und Wissenschaft.
So leitet das UFZ unter dem Titel „Leipziger BlauGrün – Blau-grüne Quartiersentwicklung in Leipzig“ einen Forschungsverbund, an dem sich die Stadt Leipzig, die Leipziger Stadt- und Wasserwerke, weitere Wissenschaftseinrichtungen und Unternehmen, das Umweltbundesamt und der Investor des Quartiers beteiligen. „Wir wollen zeigen, wie in einem Innenstadtquartier das zentrale Abwassersystem entlastet, die Energieeffizienz verbessert und die Auswirkungen von Starkregen- und Dürreereignissen gemindert werden können“, sagt der Projektleiter und Umweltbiotechnologe Prof. Roland A. Müller vom UFZ. Geplant sind in dem neuen Stadtquartier dezentrale blau-grüne Infrastrukturen wie beispielsweise Gründächer, Retentionsflächen und Baumrigolen. „Diese Infrastrukturen können nicht nur durch den Rückhalt des Niederschlagswassers das städtische Kanalnetz bei Starkregenereignissen deutlich entlasten. Durch gezielte Versickerung und Speicherung können sie das Regenwasser auch für die Bewässerung in den trockenen Sommermonaten bereithalten“, sagt Roland A. Müller.
Die damit verbundenen Verdunstungseffekte können zudem helfen, das Mikroklima des neuen Stadtquartiers zu verbessern. Zunutze kommen dem UFZ-Team im Projekt Leipziger BlauGrün vor allem die langjährigen Erfahrungen in der Erforschung und der praktischen Umsetzung dezentraler Wasserinfrastruktursysteme. So entwickelten die Forscher zwischen 2006 und 2018 für wasserarme Regionen der Erde wie die arabische Halbinsel einen Systemansatz, der zentrale Kanalnetze mit dezentralen Lösungen flexibel ergänzt und so den Schutz des Grundwassers vor Schadstoffen und Krankheitskeimen verbessert und den Frischwasserverbrauch minimiert. 2018 hatte das Team um Roland A. Müller dafür den Deutschen Umweltpreis der Deutschen Bundesstiftung Umwelt erhalten. Schon damals zeichneten sich vor dem Hintergrund des Klima- und demographischen Wandels die Anwendungspotenziale für Europas schnell wachsende Städte ab.
Ein anderer wichtiger Baustein für das Projekt „Leipziger BlauGrün“ sind die Gründächer, die auf dem UFZ-Gelände in Leipzig in den vergangenen beiden Jahren zu Forschungszwecken errichtet wurden. Wissenschaftler unterschiedlichster Fachrichtungen und Institutionen treffen sich dort, um die Vor- und Nachteile unterschiedlich konzipierter Gründächer herauszufinden – von Sumpfpflanzendächern über verdunstungsintensive Gründächer bis hin zu extensiven Gründächern. Stadtklimaforscher ermitteln beispielsweise Details zu Wasser- und Energiebilanzen der verschiedenen Gründächer, Umweltchemiker identifizieren Einträge von luftgetragenen Schadstoffen und Biologen ihre unterschiedliche Rolle bei der Erhaltung der biologischen Vielfalt.
„Diese Details zu kennen, ist für uns unheimlich wichtig, wenn wir blau-grüne Infrastrukturen im großen Stil konzipieren wollen“, betont UFZ-Umweltbiotechnologe Dr. Manfred van Afferden. Ihn begeistert vor allem ihre Multifunktionalität: Gründächer können dazu beitragen, dass Städte angenehm temperiert sind, den ungehinderten Niederschlagsabfluss von den Gebäuden über längere Zeit zurückhalten, Wasser zur Bewässerung für den Sommer speichern, Brauchwasser aus Haushalten oder Straßenabläufen reinigen oder als Biotope die Artenvielfalt fördern. Das im Gründach gespeicherte Wasser lässt sich zudem mit Wärmetauschern nutzen, um Räume innerhalb der Gebäude zu kühlen.
Der Einsatz blau-grüner Anlagen innerhalb der Stadt ist jedoch aus juristischer Sicht kein Selbstläufer. „Das geltende Recht der Stadtentwässerung ist hauptsächlich auf das klassische Modell der Kanalentwässerung ausgelegt und regelt in Bezug auf dezentrale Alternativen der Niederschlagsversickerung und -verwertung nicht klar genug, was Gemeinden und Grundeigentümer tun dürfen und müssen. Es fehlt an einer fortschrittlichen Regulierung, die insbesondere die Gemeinden ermächtigt, blau-grüne Infrastrukturen auf öffentlichem und privatem Grund zu planen und durchzusetzen“, sagt der UFZ-Umweltrechtler Dr. Moritz Reese. Sein Team erarbeitet Empfehlungen zu den rechtlichen Veränderungen, die der Gesetzgeber vornehmen sollte, um neue Lösungen zum Wohl der Umwelt und der Allgemeinheit zu ermöglichen. Unter welchen Bedingungen sind dezentrale Anlagen wie Gründächer, Retentionsbecken und Baumrigolen erlaubt? Welche Anforderungen des Grundwasser- und Bodenschutzes sind zu beachten? Wie lassen sich Überschwemmungsschutz und Unfallsicherheit gewährleisten?
„Wir wollen helfen den Rechtsrahmen zu verbessern, um Kommunen den Einsatz innovativer Konzepte zu erleichtern und Investoren Anreize für ein nachhaltiges Niederschlagsmanagement zu geben“, sagt Reese.
Bislang seien beispielsweise das Stadtplanungsrecht, das Bauplanungsrecht oder auch das Wasserrecht noch nicht hinreichend auf dezentralen Technologien ausgelegt.
Dass das Projekt „Leipziger BlauGrün“ im Co-Design auch gemeinsam mit städtischen Akteuren durchgeführt wird, sieht die Stadt Leipzig als Vorteil: „Wir können unsere Bedarfe und stadtplanerischen Vorgaben einbringen und profitieren zugleich von den Erkenntnissen der Forschungsergebnisse“, sagt Heinrich Neu, Leiter des Stadtplanungsamts Leipzig. „Das Quartier 416 in Eutritzsch stellt eine Blaupause für vergleichbare Aufgaben der Stadtquartiersplanung dar“, ergänzt Projektleiter Roland A. Müller. „Deshalb prüfen wir gemeinsam mit den städtischen Entscheidungsträgern, ob und wie die Forschungsergebnisse auch auf weitere anstehende Bauprojekte übertragen werden können.“
Das Projekt „Leipziger BlauGrün – Blau-grüne Quartiersentwicklung in Leipzig“ wird mit rund 2,8 Millionen Euro über die BMBF-Fördermaßnahme „Ressourceneffiziente Stadtquartiere für die Zukunft (RES:Z)“ gefördert. In RES:Z werden bundesweit zwölf inter- und transdisziplinäre Vorhaben unter Beteiligung von mehr als 20 Modellkommunen unterstützt. Leipzig ist die einzige ostdeutsche Modellstadt. Beteiligt sind am Projekt „Leipziger BlauGrün“ die Stadt Leipzig, die Kommunalen Wasserwerke Leipzig, die Stadtwerke Leipzig, die Leipzig 416 Management GmbH, das Fraunhofer-Institut für Grenzflächen- und Bioverfahrenstechnik, die Universität Leipzig, die Hochschule für Technik, Wirtschaft und Kultur Leipzig, die Unternehmen Tilia GmbH, Optigrün International und DHI Wasy GmbH sowie das Umweltbundesamt.
Weitere Informationen: Webseite zum Projekt: www.ufz.de/leipzigerblaugruen/