Görlitz und ähnliche Klein- und Mittelstädte fernab von großen Metropolen haben das Potenzial, Kreativen, Freischaffenden und jungen Familien eine neue Heimat zu bieten. Die besonderen Merkmale dieser Kommunen spielen dabei eine zentrale Rolle. Auch die Corona-Pandemie und der damit verbundene Trend zum Arbeiten im Homeoffice bergen Chancen für Klein- und Mittelstädte. Einige Rahmenbedingungen stehen einem Zuzug aus der Großstadt aber auch entgegen. Dies sind einige wissenschaftliche Ergebnisse der Begleitforschung im Projekt „Stadt auf Probe – Wohnen und Arbeiten in Görlitz“, die das Interdisziplinäre Zentrum für ökologischen und revitalisierenden Stadtumbau (IZS) durchgeführt hat.
Mehr als 60 Personen lockte das Projekt „Stadt auf Probe – Wohnen und Arbeiten in Görlitz“ von Januar 2019 bis März 2020 für jeweils vier Wochen in die Stadt an der Neiße. Görlitz stand erstmals nicht nur als Wohn-, sondern auch als potenzieller Arbeitsort und Wirtschaftsstandort im Mittelpunkt der Untersuchungen. Das Projekt richtete sich vor allem an Personen, die ortsungebunden arbeiten können, zum Beispiel Selbstständige und Freischaffende. Für ihren Aufenthalt konnten sie kostenfrei Wohnungen und Arbeitsräume nutzen.
Vor und während des Görlitz-Aufenthaltes wurde ein Teil der Teilnehmenden (47 Personen) durch das Team des Interdisziplinären Zentrums für ökologischen und revitalisierenden Stadtumbau (IZS) wissenschaftlich befragt – zu den Erwartungen an den Probeaufenthalt ebenso wie zu den Erfahrungen vor Ort. Die Befragungsergebnisse sollen dabei helfen, diejenigen Faktoren zu identifizieren, die kleinere Städte und Städte in peripherer Lage für erwerbstätige Menschen attraktiv machen und die die Anziehungskraft dieser Orte positiv beeinflussen.
Was spricht für das Leben in einer Klein- oder Mittelstadt?
Die Befragung der Teilnehmenden an „Stadt auf Probe“ macht deutlich: Klein- und Mittelstädte haben Vorzüge, die viele Großstädte nicht oder nicht mehr bieten können. Punkten konnte Görlitz in den Augen der Befragten unter anderem mit einem großen Angebot an Wohn- und Arbeitsraum sowie vergleichsweise günstigen Mieten. Auch das attraktive Stadtbild, die kurzen Wege in einer Stadt dieser Größe, die Versorgung mit Dingen des täglichen Bedarfs sowie das Angebot an Parks und Grünanlagen bewerteten die Befragten als sehr positiv. Urteile über die Familienfreundlichkeit der Stadt und Aspekte wie Spielplätze und familienfreundliche Freizeitangebote fielen ebenfalls sehr positiv aus.
Die Stadt kann mit ihren zahlreichen Kultur-, Freizeit- und Sporteinrichtungen überzeugen
Auch in der Stadtgesellschaft fühlten sich viele der Befragten schnell wohl und führten dies auch auf das Engagement vieler Görlitzer*innen für ihre Stadt, in Vereinen und Initiativen zurück. Nicht zuletzt kommt Görlitz sein landschaftlich reizvolles Umland mit gut erreichbaren Naherholungsgebieten zugute und trägt zur guten Bewertung der Stadt als potenzieller Wohnort bei.
Auch als Arbeitsstandort hinterließ Görlitz bei den Befragten einen positiven Eindruck
Die meisten der Teilnehmenden am Projekt sind in der Kultur- und Kreativwirtschaft tätig. Dass Görlitz viele Freiräume bietet, um sich kreativ zu entfalten und es bereits einige Initiativen und Netzwerke vor Ort gibt, wussten sie daher zu schätzen. Auch das breite Angebot an Gewerbe-, Arbeits- und Kreativräumen wurde als gut bis sehr gut bewertet, ebenso wie die überschaubare Größe und Ruhe der Stadt. Einigen der Befragten kam die Entschleunigung des Lebens in einer Mittelstadt wie Görlitz sehr entgegen, macht dies doch die Konzentration auf eigene kreative Projekte möglich und bietet Raum für Inspiration.
Wo könnten Klein- und Mittelstädte nachbessern?
Mehr als die Hälfte der Befragten (53 %) gab an, dass sie sich vorstellen könnte, nach Görlitz umzuziehen. Gegen diesen Schritt sprachen zum einen persönliche Gründe wie die eigenen beruflichen Perspektiven der Befragten. Deutlich wurde in den Gesprächen aber auch: Bei dem Vorhaben, Görlitz für eine junge, kreative und gut ausgebildete Zielgruppe attraktiv zu machen, könnte die Stadt ihre Potenziale besser ausschöpfen. So gibt es zwar deutlich mehr und günstigeren Wohnraum als in mancher Großstadt. Doch bei Sanierung und Ausstattung entsprachen die Angebote auf dem Wohnungsmarkt nicht immer den Ansprüchen und Wohnwünschen der Befragten. In einer Stadt mit historischer Bausubstanz vermissten einige der Teilnehmenden höherwertig sanierten und individuell gestalteten Wohnraum. Auch unsanierte Wohnungen, die nach Erwerb individuell gestaltet werden können, wären für einige der Befragten eine gute Alternative zu den vorhandenen Angeboten auf dem Immobilienmarkt.
Bei Gewerbe-, Arbeits- und Kreativräumen wird das vorhandene Potenzial aus Sicht einiger Befragter ebenfalls nicht optimal genutzt. So sei das Angebot zwar offensichtlich groß und vielfältig, der Zugang zu den Räumen gestaltete sich jedoch schwierig. Die Befragten vermissten nötige Informationen, wie etwa einen Überblick über freie Objekte sowie Auskünfte zu Preisen, Ausstattung, Mietbedingungen und Ansprechpersonen. Generell empfahlen sie, die Möglichkeiten und Räume, die Görlitz Kreativen bieten könnte, nicht nur zugänglich und nutzbar zu machen, sondern deutlich offensiver auch zu kommunizieren und damit für die Stadt als potenziellen Standort der Kultur- und Kreativwirtschaft zu werben.
Mit Blick auf das tägliche Leben in Görlitz gab es in den Interviews Kritik daran, dass in einer Stadt der kurzen Wege ausgerechnet in der historischen Innenstadt dem Autoverkehr sehr viel Raum gegeben wird. Ebenso vermissten die Befragten in der Altstadt die Möglichkeit, für den täglichen Bedarf einzukaufen. Insgesamt fokussierten Handel und Gastronomie in den Innenstadtbereichen zu sehr auf touristische Angebote.
Wo braucht es die Unterstützung von Bundes- und Landesebene?
Soll sich Görlitz als Standort der Kultur- und Kreativwirtschaft etablieren, wäre eine Vermittlungsstelle zwischen Fördermittelgebern und Kreativschaffenden ebenso wünschenswert wie bessere Möglichkeiten, sich untereinander zu vernetzen. Auch die Wertschätzung kreativer Aktivitäten innerhalb der Stadtgesellschaft sei durchaus ausbaufähig. Ein Manko, auf das vor allem Personen aufmerksam machten, die auf die lokale Vermarktung ihrer Kunst oder Produkte angewiesen sind, ist die relativ geringe Kaufkraft vor Ort. Deshalb bliebe für viele Kreative und Kunstschaffende auch nach einem Umzug in eine Mittelstadt wie Görlitz der Kontakt zu Netzwerken und Absatzmärkten jenseits der Stadtgrenzen ein wichtiger Aspekt. Hier braucht es eine gute Infrastruktur, sowohl in digitaler Hinsicht (schnelles Internet) als auch mit Blick auf die Anbindung an Großstädte. Die wünschen sich viele der Befragten als schnelle, regelmäßige und komfortable Zugverbindungen, um die Reisezeit zum Arbeiten nutzen zu können.
„Gerade die Entwicklung der Infrastruktur über die Stadtgrenze hinaus können die Kommunen natürlich nur bedingt selbst beeinflussen. Hier benötigen sie die Unterstützung durch die Bundes- und Landesebene“, erläutert Projektleiter Prof. Dr. Robert Knippschild vom IZS. „Sollen Mittelstädte eine Alternative zum Leben in der Großstadt bieten und sich durch Zuzug zu stabilen und gleichwertigen Lebensorten entwickeln, dann braucht es außerdem auch eine Vielfalt, die über ein gutes Wohnangebot hinausgeht – auch das haben unsere Untersuchungen im Projekt ‚Stadt auf Probe‘ deutlich gemacht.“
Corona-Pandemie als Chance für Klein- und Mittelstädte?
Im Projektzeitraum sind mit der Corona-Pandemie weitere Aspekte für die Entwicklung von Klein- und Mittelstädten hinzugekommen. So hat die Pandemie Trends auf dem Arbeitsmarkt verstärkt, die Chancen für viele kleinere Kommunen abseits der großen Ballungsräume bergen. In vielen Branchen ist plötzlich das Arbeiten im Homeoffice eine denkbare Alternative zum täglichen Gang ins Büro. Davon könnten auch Mittelstädte wie Görlitz profitieren. Sie können mit Qualitäten punkten, die viele Menschen in dicht bewohnten Großstädten vermissen. Bezahlbare Wohnungen gehören ebenso dazu wie Raum für Kreativität und Selbstentfaltung, eine gute Versorgung mit den Dingen des täglichen Bedarfs oder ein vielfältiges Kulturangebot und kurze Wege ins Grüne. Eine gute Alternative zum Leben in der Großstadt böten sie damit allemal. Für mobiles Arbeiten fern des Firmenbüros und nur hin und wieder eine Fahrt zum Arbeit- oder Auftraggeber in der Großstadt braucht es aber wiederum mit schneller Internetverbindung und guter Zuganbindung passende infrastrukturelle Rahmenbedingungen, die Klein- und Mittelstädte nicht allein entwickeln und anbieten können.
Welchen Mehrwert brachte das Projekt der Stadt Görlitz?
Ein Zuzug, noch dazu von kreativ oder künstlerisch tätigen Menschen, kann Klein- und Mittelstädten vielfältige Impulse bringen. Das haben die 15 Monate aktiver Projektphase in Görlitz gezeigt. So brachten sich die Teilnehmenden an „Stadt auf Probe“ mit verschiedenen Ausstellungen und begleitenden Veranstaltungen in das Stadtleben ein. Workshop-Angebote in unterschiedlichen künstlerischen Bereichen standen Interessierten offen. Seit Herbst 2019 gibt es in Görlitz einen Ableger der „Marktschwärmer“, einer Initiative, die die Vermarktung regional produzierter Waren unterstützt. Den Grundstein dafür legte eine „Stadt auf Probe“-Teilnehmerin. Mindestens fünf Haushalte haben sich nach ihrem Probeaufenthalt für den Umzug nach Görlitz entschieden. Nicht zuletzt brachte das Projekt der Stadt große mediale Aufmerksamkeit.
Auch nach Projektende bleibt das Team des IZS mit den Görlitzer Projektpartnern in engem Austausch zu Fragen der Stadtentwicklung. Auf der Grundlage der wissenschaftlichen Erkenntnisse aus dem Projekt „Stadt auf Probe“ werden sie sich gemeinsam zu Schlussfolgerungen für die Stadt verständigen.
Wer nutzte den Probeaufenthalt und ließ sich wissenschaftlich befragen?
Insgesamt haben 62 Personen (41 Haushalte) zur Probe in Görlitz gelebt. Auch fünf Familien mit insgesamt sieben Kindern nahmen am Projekt teil. Wissenschaftlich befragen konnte das Team vom IZS 47 erwachsene Personen. Mit rund 40 Prozent machten die 30- bis 39-Jährigen den größten Teil der Befragten aus, gefolgt von der Altersgruppe der 50- bis 59-Jährigen (19 %). Damit testeten zum einen junge Menschen in der Phase der Familiengründung oder kurz davor, ob ein Standortwechsel für sie in Frage kommen könnte. Die Älteren hingegen orientierten sich im späteren Berufsleben und nach dem Auszug der Kinder neu und dachten dabei auch über einen anderen Wohnort nach. Der überwiegende Teil der Befragten (70 %) ist eigentlich in einer Großstadt mit mehr als 100.000 Einwohnern zu Hause, 45 Prozent der Befragten kam aus Berlin. Aber auch aus Klein- und Mittelstädten (45 %) sowie dem ländlichen Raum (11 %) nahmen Personen teil. Mehr als 90 Prozent der Befragten waren freiberuflich tätig, zum Beispiel im Kunst- und Kulturbereich, in Beratung oder Lehre, journalistisch oder im Handwerk. Mehr als drei Viertel gaben an, auch dauerhaft ortsungebunden arbeiten zu können.