Rückgang der Insektenzahlen kann weiteres Artensterben nach sich ziehen / Fachtagung an der Universität Hohenheim stellt Lösungsansätze vor: Um das Insektensterben und den Artenschwund zu stoppen, bedarf es großer Anstrengungen – und einer Strategie. Wie diese aussehen müsste, diskutierten Biologen und Naturschutzpraktiker aus ganz Baden-Württemberg nun am Landesbiologentag an der Universität Hohenheim in Stuttgart und stellten ihre Ansätze vor. Vor allem fünf Punkte kristallisierten sich in der Diskussion als zielführend heraus: eine verbesserte Umweltbildung, eine Agrarwende, mehr Strukturvielfalt in der Landschaft, ein Langzeit-Monitoring sowie insbesondere eine stärker auf die Biodiversität ausgerichtete Agrarförderung. Den landesweiten Biologentag und dritten Biodiversitätsgipfel mit dem Motto „Schmetterlinge bald nur noch im Bauch: Erst sterben die Insekten – und dann?“ veranstalteten die Umweltakademie Baden-Württemberg, die Universität Hohenheim und der Verband der Biologie, Biowissenschaften und Biomedizin e.V. (VBio).
Seit vergangenen Herbst ist im Bewusstsein der Bevölkerung angekommen, dass der Artenschwund nicht nur in fernen Ländern stattfindet: Eine Studie zum Insektenrückgang ergab 70 bis 80 Prozent weniger Schmetterlinge, Käfer, Bienen, Wespen und andere Insekten innerhalb weniger Jahrzehnte. „Seitdem wird intensiv über Ursachen und Gegenmaßnahmen auf unterschiedlichsten Ebenen diskutiert“, erklärt Prof. Dr. Martin Hasselmann, Leiter des Fachgebiets Populationsgenomik bei Nutztieren an der Universität Hohenheim und Vorsitzender des VBIO Baden-Württemberg
„Der Insektenrückgang ist zwar nicht erst seit letztem Herbst bekannt“, erklärt der Hohenheimer Tierökologe Prof. Dr. Johannes Steidle. „Doch er zeigte sich innerhalb weniger Jahrzehnte, verursacht durch Lebensraumzerstörung und intensive, industrielle Landwirtschaft.“ Hinzu komme, dass das Insektensterben als Auslöser weiteren Artensterbens fungieren könne. Am heutigen landesweiten Biologentag und dritten Biodiversitätsgipfel der Umweltakademie Baden-Württemberg an der Universität Hohenheim mit dem Thema „Schmetterlinge bald nur noch im Bauch: Erst sterben die Insekten … und dann?“ diskutierten Wissenschaftler und Praktiker verschiedene Strategien, um dieser Gefahr entgegenzuwirken.
Ethische Aspekte sind Grundlage für alle Handlungsmöglichkeiten
Naturwissenschaftliche Beiträge alleine reichen nicht aus, um Handlungsoptionen zu entwickeln und zu begründen. Dafür müssen auch ethische Aspekte berücksichtigt werden – denn Insekten spielen für den Menschen eine sehr widersprüchliche Rolle in der Bewertung: Als Schädlinge bekämpft, werden sie zugleich als Nützlinge, Bestäuber und als Nahrung für andere Tiere geschätzt. „Natur ist uns Menschen lästig, nützlich, schädlich, angenehm – hat also anscheinend vor allem eine instrumentelle Bedeutung“, sagt Prof. Dr. Thomas Potthast, Professor für Ethik, Theorie und Geschichte der Biowissenschaften an Universität Tübingen. Er gibt aber zu bedenken. „Es ist eine grundlegende ethische Frage, ob wir die Natur einschließlich aller Insekten auch um ihrer selbst willen schätzen sollten – weil sie Lebewesen sind und Menschen sie grundsätzlich nicht schädigen sollten.“ Dieser Aspekt ist ein wichtiger Punkt für den Schutz der biologischen Vielfalt, gerade auch in der Kulturlandschaft.
Punkt 1: Umweltbildung in Schule, Ausbildung und Studium verbessern
Eine wichtige Funktion schreiben die Experten am Landesbiologentag der Umweltbildung zu, und zwar in allen gesellschaftlichen Bereichen. Hier gebe es deutliche Lücken, meint Dr. Karin Blessing, stellvertretende Leiterin der Umweltakademie Baden-Württemberg: „Obwohl wir immer mehr abrufbares Wissen anhäufen, haben wir es in vielen Bereichen mit einer Wissenserosion in Sachen Natur, Umwelt und Gesellschaft zu tun“, mahnt sie.
Biologie sei im Gymnasium ab Klasse 6 als eigenständiges Fach aufgegeben worden, und auch die Themen hätten sich zu mikrobiologischen und molekulargenetischen Themen verschoben. „Klassische Themen der Botanik und Zoologie finden allenfalls noch am Rande Beachtung. Im Hinblick auf das Artenwissen hat sich ein Ungleichgewicht der Lehr- und Lerninhalte ergeben.“ Artenwissen jedoch sei die Grundlage, wenn man ökologische Sachverhalte im persönlichen und politischen Alltag bewerten will, so Dr. Blessing. Denn wer Tagpfauenauge, Wiesenhummel und Heckenbraunelle nicht kennt, könne sie auch nicht schützen.
„Die Schüler müssen für einen verantwortungsvollen Umgang mit der Natur sensibilisiert werden“, bestätigt Gerhard Dittes, Oberstudienrat i. R. und Vorsitzender der BUND-Ortsgruppe Bretten. Dies könne etwa am Beispiel der Wildbienen mit ihren vielfältigen Lebensweisen, ihrer effektiven Bestäuberfunktion, Gefährdungsursachen und geeigneten Schutzmaßnahmen realisiert werden. Auch später bei der Ausbildung der jungen Leute gibt es Verbesserungsbedarf. „Wir brauchen unbedingt eine duale Ausbildung Landwirtschaft & Ökologie – und dies vor allem mit einer sehr starken Praxiskomponente auf beiden Seiten“, fordert Dr. Rainer Oppermann vom Institut für Agrarökologie und Biodiversität in Mannheim. „So etwas gibt es bisher noch nicht.“
„Kenntnisse über Insektenarten und ihre ökologische Funktion in den Lebensräumen werden in Deutschland nicht nur an Schulen, sondern auch an den Universitäten kaum noch vermittelt“, stellt Dr. Lars Krogmann vom Staatlichen Museum für Naturkunde in Stuttgart fest. „Eine Taxonomie-Initiative zur Förderung der biologischen Grundlagenforschung würde dies beheben.“
Punkt 2: Agrarwende hin zu einer umweltgerechteren Landwirtschaft forcieren
„Die meisten der vielschichtigen Ursachen des Insektensterbens lassen sich direkt auf die Intensivierung der Landwirtschaft zurückführen“, erklärt Dr. Krogmann. Langfristig müsse daher der Flächenanteil des ökologischen Landbaus auf mindestens 50 Prozent steigen. Zurzeit liegt er bei nur 7,5 Prozent. „Das mittelfristige Ziel der Bundesregierung, 2030 auf einen Anteil von 20 Prozent zu kommen, ist anerkennenswert, kann aber ohne eine radikale Abkehr von der bisherigen Agrarpolitik nicht erreicht werden“, warnt Dr. Krogmann.
Auf lokaler Ebene gäbe es bereits viele gute und funktionierende Ansätze zur Förderung der Biodiversität, stellt Dr. Oppermann fest. „Auf regionaler, landes- und bundesweiter und europäischer Ebene müssen wir jedoch quantitativ denken und handeln. Wir brauchen ein flächiges Netz von Lebensräumen quer über unsere Landschaften. Im Durchschnitt sollten 20 bis 30 Prozent der Flächen artenreich sein.“
Dieser Umfang, präzisiert Dr. Oppermann, solle in unterschiedlichen Landschaften auch unterschiedlich hoch sein – zum Beispiel 10 Prozent in Gäulandschaften und bis über 50 Prozent in Extensivlandschaften. „Und er soll zu einem wesentlichen Anteil aus produktiven Flächen bestehen, die der Nahrungsmittelproduktion dienen, also etwa Getreide mit blühender Untersaat und ohne Herbizideinsatz.“
„Eine der dringlichsten Aufgaben ist, das Einbringen von Umweltgiften in unsere Natur substanziell zu reduzieren“, so Prof. Dr. Hasselmann. „Das geht weit über die Pflanzenschutzmittel hinaus, denn der Eintrag von Antibiotika und Hormonen in das Grundwasser, auch tagtäglich über unsere Haushalte, beeinflusst unser Ökosystem und die Artenvielfalt nachhaltig.“
Punkt 3: Strukturvielfalt in der Landschaft fördern
Unterschiedliche Biotope mit Wiesen, Wäldern, Gebüschen oder Staudenfluren nebeneinander werden in der Landschaft immer rarer. Doch diese Strukturvielfalt ist Voraussetzung für die Artenvielfalt. „Um die Strukturvielfalt in der Landschaft zu erhöhen, sollten mehrjährige Blühstreifen, Saumstreifen entlang von Hecken und Wegrändern sowie Wildbienenweiden mit regionalem Saatgut und Brachflächen gefördert werden“, benennt Dr. Krogmann Möglichkeiten zur Verbesserung. „Kleine landwirtschaftliche Betriebe mit kleineren Anbauflächen sollten stärker als große unterstützt werden.“
Punkt 4: Langzeit-Monitoring erweitern
Ohne Daten zum Zustand und zur Entwicklung der Artenvielfalt kann man keine Probleme erkennen, keine Zielvorstellungen und keine Schutzmaßnahmen definieren. Deshalb muss ein langfristiges Biodiversitäts-Monitoring etabliert werden, das als Grundlage für zukünftige Naturschutzmaßnahmen dient.
„Die Initiativen zur Errichtung von Biotopverbundnetzen müssen stärker wissenschaftlich begleitet werden, denn ob der gewünschte Genfluss in den einzelnen Arten zwischen den Biotopen überhaupt funktioniert, ist nicht bekannt“, erklärt Prof. Dr. Hasselmann.
„Das Standard-Monitoring mit einzelnen Artengruppen wie zum Beispiel Tagfaltern sollte ergänzt werden durch unterschiedliche ökologische Gruppen, etwa Insekten als Bestäuber, Gegenspieler und Nahrung“, verdeutlicht Dr. Krogmann. Das bedeute auch, dass naturkundliche Sammlungen mehr Personal benötigen.
Punkt 5: Agrarförderung auf Förderung von Biodiversität und Wildbienen ausrichten
Damit sich die oben angemahnten notwendigen Änderungen in der Bewirtschaftung der Agrarlandschaft tatsächlich auch einstellen, bedarf es einer weitaus stärker auf die Biodiversität ausgerichteten Agrarförderung, so Dr. Oppermann. „Nur wenn Landwirte leistungsgerecht für die Ansaat von Getreide mit blühender Untersaat, für das Anlegen von mehrjährigen Blüh- oder Saumstreifen und andere Biodiversitätsmaßnahmen bezahlt werden und die Maßnahmen in einem adäquaten Umfang erfolgen, wird sich die Biodiversitätssituation zum Besseren entwickeln“, betont er. „Den Bürokratieaufwand muss man minimieren und stattdessen eine Kultur der öffentlichen Wertschätzung für die Umweltleistungen der Landwirte fördern.“
Die Honigbiene sei ein landwirtschaftliches Nutztier, erklärt Dr. Krogmann. „Der aktuelle Trend zur Hobbyimkerei vor allem in Städten verschärft die Nahrungskonkurrenz von Honigbienen und Wildbestäubern um das begrenzte Blütenangebot.“
„Die Politik hat die positive Öffentlichkeitswirkung von Honigbienen erkannt und trägt zur Vermischung der Diskussion von Honigbienen- und Wildbienenschutz bei. Die Anzahl von Honigbienenvölkern sollte nicht weiter gesteigert, sondern je nach Lebensraumtyp und Blütenangebot auf eine ökologisch vertretbare Höchstzahl reduziert werden“, so der Experte.