Digitalisierung, nachhaltige Entwicklung und die Macht der transnationalen Konzerne

Ein Interview mit Prof. Ortwin Renn, Direktor des Institute for Advanced Sustainability Studies e.V. (IASS)

IASS-Direktor Ortwin Renn IASS/berlin-event-foto.de

Prof. Ortwin Renn ist seit dem 1.2.2016 wissenschaftlicher Direktor am Institut für Transformative Nachhaltigkeitsforschung (IASS) in Potsdam und Inhaber des Lehrstuhls „Technik- und Umweltsoziologie“ an der Universität Stuttgart. Darüber hinaus leitet Prof. Renn gemeinsam mit Frau Dr. Marion Dreyer und Frau Agnes Lampke das Forschungsinstitut DIALOGIK, eine gemeinnützige GmbH zur Erforschung und Erprobung innovativer Kommunikations- und Partizipationsstrategien in Planungs- und Konfliktlösungsfragen. Am IASS leitet Prof. Renn Forschungsprojekte zur Umsetzung der Energiewende vom regionalen bis zum globalen Maßstab, zu den globalen Bedrohungen durch systemische Risiken und zu den Auswirkungen der Digitalisierung auf die nachhaltige Entwicklung. Sein Ziel ist es daran mitzuwirken, das IASS als ein weltweit anerkanntes Forschungszentrum für transdisziplinäre Nachhaltigkeitsforschung zu verankern. Prof. Renn studierte Volkswirtschaftslehre, Soziologie und Sozialpsychologie und promovierte anschließend an der Universität Köln. Er arbeitete als Wissenschaftler und Hochschullehrer in Deutschland, den USA und der Schweiz. Er ist Mitglied der Deutschen Akademie für Technikwissenschaften (Acatech), der nationalen Akademie der Wissenschaften Leopoldina, der Berlin-Brandenburger Akademie der Wissenschaften (BBAW). Er gehört zahlreichen wissenschaftlichen Beiräten, Kuratorien und Kommissionen an.  


Globalisierung, Digitalisierung, Nachhaltigkeit – diese weltweiten Mega-Transformationen sorgen für umfassende Umwälzungen. Daraus entspringen neue Strömungen wie etwa populistische Bewegungen, welche die Sicherheit gefährden und demokratische Werte infrage stellen. Welche Regeln und Institutionen können bei solch systemischen Risiken stabilisierend wirken?

Prof. Renn: Die Corona-Pandemie hat deutlich gezeigt, wie ein systemisches Risiko über die globalisierte Welt hereinbricht: Zunächst ist es ein kaum beachteter lokaler Ausbruch mit ersten Erkrankungen in Wuhan. Einer Lawine gleich verbreitet sich jedoch das Virus im Ursprungsland, zieht weiter in Nachbarländer und in der Folge schnell über den ganzen Globus. Aufgrund dieses Kaskadeneffekts breitete sich die Krise vom s Gesundheitswesen auf  den weltweiten Waren- und Fernverkehr, die Logistik, den Welthandel, das Zusammenleben der Menschen, das Bildungssystem und  anderes mehr aus. So bringt ein zunächst lokales Ereignis die gesellschaftlichen Systeme weltweit an ihre Grenzen.

Ein ähnlich destabilisierendes Moment ruft die Digitalisierung hervor?

In der digitalen Welt haben wir die Big Five mit ihrer enormen Marktmacht. Aber diese Megaunternehmen produzieren nicht selbst, sondern lassen zum Großteil in China herstellen. Und die Blaupausen, die sie benutzen, kommen aus Israel, aus Deutschland oder Frankreich. Und bei genauer Betrachtung kann man feststellen, dass sie eigentlich inzwischen zu transnationalen Unternehmen geworden sind. Was sich auch im Streit zwischen Trump und Google zeigte, als das Unternehmen erklärte, man könne sich auch irgendwo eine Insel kaufen und den Sitz dorthin verlegen. Was zeigt, wie sehr sich die Machtverhältnisse zugunsten transnationaler Unternehmen geändert haben.

Hat das Primat der Politik ausgedient?

So wie wir es bisher gewohnt waren, sicherlich. Wenn heute einen der großen transnationalen Player die Regierung nicht gefällt, sucht er sich einfach eine andere. Dass diese mächtigen transnationalen Unternehmen heute in den USA beheimatet sind, ist für mich so etwas wie das Nestsyndrom. Wenn sich irgendwo  das erste Vogelpaar in einer für sie günstigen Gegend niederlässt , kommen gerne andere Paare dazu und bauen hier ihre Nester, bis eine ganze Vogelkolonie entsteht.  Diese Entwicklung hätte auch an einem anderen Ort stattfinden können. Und um im Bild zu bleiben, wir werden noch ein paar andere, neue Kolonien für Nester bekommen, etwa in China, wo diese Entwicklung mit enormen Investitionen des Staates vorangetrieben wird.  In kleinerem Maßstab erleben wir ähnliche Prozesse in  Japan sehen und auch in Europa.

Für Europa sind die schwierigen Aussichten. Ist die EU noch handlungsfähig?

Den transnationalen Charakter dieser Unternehmen sehen wir auch daran, dass diese Unternehmen sich nur wenig um nationale Regulationen kümmern. Wenn etwa die EU versucht einzugreifen, dann werden die Transnationalen sicher ein Weg finden, die Regulierungen zu umgehen. Sie schreiben ihre eigenen Gesetzte und beherrschen als Oligopolisten die virtuelle Welt. Sie bilden eine neue Klasse von  Oligopolisten die ökonomische Macht besitzen wie alle Oligopolisten, , die sich aber als Visionäre für eine neue kosmopolitische und weltoffene Kultur verstehen.  Visionäre, die für unsere klassische nationale Politik nicht mehr zu fassen, zu regieren sind. Sie arbeiten auf einer anderen, eben transnationalen Ebene. Politik kann hier nur wieder Einfluss nehmen, wenn sie selbst transnational aufgestellt ist.

Aber dann verliert das Modell des Nationalstaates doch eine Berechtigung?

Die virtuelle Wirtschaft braucht den  klassischen Nationalstaat nicht und unterstützt ihn folgerichtig auch nicht. Daran ändern auch die populistischen Politiker, die sich am klassischen Nationalstaat festklammern, nichts. Aber aus den Ängsten der Menschen werden sie sich noch einige Zeit nähren können. Aber sie sind ein Auslaufmodell, denn wie wir seit Marx wissen: „Sein bestimmt das Bewusstsein!“. Und das Sein und das Arbeiten in einer transnationalen Welt ist von populistischem Denken weit entfernt. Nationalismus und Populismus bedienen sich zwar der Techniken der virtuellen Welt, indem sie Echokammern für ihre Anhängerschaft aufbauen und pflegen, aber sie sind den Visionen und Grundüberzeugungen der virtuellen Welt, wie sie auch von den transnationalen Unternehmen vertreten werden,   entgegengesetzt.

Was bedeutet dies für die weitere Entwicklung?

Da kann man zwei Szenarien entwickeln: einerseits das dystopische und andererseits das eutopische.  Im dystopischen würden wir immer wieder in Nationalismen zurückfallen, schlicht weil wir kein anders Gesellschaftsbild haben. Gleichzeitig werden Wirtschaft und Kultur immer transnationaler. Und an den Grenzen zwischen diesen beiden Polen gibt es Krieg – symbolisch oder sogar real. Und auch zwischen Nationen kann es zu bewaffneten Konflikten kommen, weil es schlicht der einzige Weg ist, um weiterhin nationale Identität zu erhalten. In dieser Gemengelage können Populisten mit Gefühlen und Ängsten arbeiten, das können sie ja bekanntlich sehr gut, und über die Realitäten hinwegtäuschen. Um die Täuschung perfekt zu machen, werden sie versuchen,  ihre Gesellschaften abzuschotten und Kriege, egal ob eher symbolische im Bereich von Kultur, materielle im Bereich von Produktion und Handel oder physische unter Androhung oder Einsatz von Gewalt, geradezu zu provozieren.

Und wie steht es um das eutopische Szenario?

Das eutopische Bild ist, dass die Politik begreift, dass d auch sie transnationale Institutionen ausbilden muss und dass die Agglomeration der wirtschaftlichen Macht nur im Sinne des Gemeinwohls zu kontrollieren ist, wenn die Politik ebenfalls transnational wird. Und dies gilt natürlich auch für andere Fragestellung wie Nachhaltigkeit und Klimaschutz. Und bei diesen Fragen zeigt sich schon sehr deutlich, dass eine transnationale Kooperation Voraussetzung für globale Wirksamkeit ist. Zurzeit haben wir international im besten Falle  eine Zusammenarbeit der Willigen. Das ist schon mal ein Fortschritt. aber eben nur die zweitbeste Lösung. Wir müssen also dahin kommen,  wirklich transnational agieren zu können. Dann würde die Politik auch wieder gegenüber den Megaunternehmen handlungsfähig sein und es ließe sich ein neues Gleichgewicht  zwischen wirtschaftlicher und politischer Macht herstellen.

Welche Kräfte werden die Form der neuen Welt noch mitgestalten?

Wenn wir versuchen, die Situation zu verstehen, sehen wir die zunehmende Wirtschaftskraft und Gestaltungsmacht der digitalen Unternehmungen, , eine gleichzeitig abnehmende Bedeutung des alten industriellen Machtkomplex der Öl- Kohle- und Autoindustrie und eine immer stärker werdende moralische Macht aus dem Leitbild der Nachhaltigkeit.. Diese moralische Macht wächst aus den Gedanken des Umweltschutzes und der Nachhaltigkeit und manifestiert sich in der weltweit wachsenden Zahl der NGOs. Und diese moralische Macht findet nun zunehmend Unterstützung durch den transnationalen digitalen Sektor. Nehmen wird beispielsweise Elon Musk, der unlängst erklärt hat, dass für ihn der Klimawandel das wichtigste Thema sei. Ähnlich äußert sich auch Bill Gates.  Wenn dies eine Indikation dafür ist, dass sich die neue wirtschaftliche Macht, die dem Thema Umwelt gegenüber ja schon länger aufgeschlossen ist, auf die Seite der Nachhaltigkeit begibt, dann werden wir starke Entwicklungen zu nachhaltigen Veränderungen sehen, bei der die klassische Politik komplett abgehängt sein wird.

Politik wird dann zukünftig in einer Art globalem Forum stattfinden?

Wir brauchen Politik. Die digitalen Unternehmen sind keine Wohltäter der Menschheit, so nett und umweltfreundlich sie sich auch gebärden mögen. Was sie heute auszeichnet, ist die enorme Macht, die Sie über die Kontrolle der virtuellen Welt besitzen. Unser klassisches Credo von „Check and Balance“ zwischen Wirtschaft und Politik ist heute schon  wirklichkeitsfremd und das wird sich trotz der momentanen Wiederbelebung des Staates bei der Corona-Bekämpfung auch in Zukunft nicht wesentlich ändern, wenn sich Politik weiterhin auf nationalstaatliches Handeln fokussiert. Die Nationalstaaten sind in einer virtuellen Welt nicht mehr handlungsfähig. Die EU könnte hier eine wichtige Rolle als übernationale Einheit  spielen, tut sich aber im digitalen Bereich weiterhin schwer.

Brauchen wir dann eine virtuelle Weltregierung?

Nein, transnationales Handeln setzt keine Weltregierung voraus.  Die Prinzipien der transnationalen Steuerung (Governance) müssen von den Regionen ausgehen. Gerade über eine gewisse regionale Autonomie lässt sich die für Problemlösung in komplexen Systemen so wichtige kulturelle Biodiversität sicherstellen. Diese müssen aber unterstützt werden durch  transnationale Institutionen, die demokratisch legitimiert werden sollten. Dabei werden natürlich nicht 8 Milliarden Menschen an einem festgelegten Termin wählen gehen. Vielmehr wäre es vorstellbar, dass die Regionen Vertreter schicken, die dann quasi Wahlmänner und Wahlfrauen benennen und in die nächsthöhere politische Ebene entsenden. So entsteht in mehreren Schritten eine Kaskade von Delegationen, die jeweils  auf der vorherigen Ebene aufsetzt (multilevel governance), ohne das Prinzip der Subsidiarität aufzulösen.