Infektionsrisiko senken, MINT-Hintergründe vermitteln, Digitalisierung gestalten. Das sind die Ziele einer bundesweiten Selbstbauinitiative zur richtigen Lüftung in Innenräumen. Einige Bundesländer fördern bereits den Selbstbau von CO2-Ampeln im Rahmen des Unterrichts: In Zeiten steigender Inzidenzen und Virus-Mutationen wird kaum ein Thema so kontrovers diskutiert wie die Öffnung unserer Schulen. Impfen, Testen, AHA-Regeln und Lüftung bilden das bekannte Arsenal an Möglichkeiten, um die Bildungsbedürfnisse der jungen Generation in Präsenz zu sichern. Aufgrund der eingeschränkten Impfstoffversorgung und der dadurch zu erwartenden Fortschreibung des Infektionsrisikos bis in den Herbst, rückt das Thema Luftqualität in Innenräumen nun erneut in den Fokus der Betrachtung. Winzige Tröpfchen (Aerosole), die beim Atmen und Sprechen entstehen, sind ein wesentlicher Übertragungsweg für COVID-19 und sollten durch technische Maßnahmen reduziert werden. Im Sommer können wir die Fenster weit geöffnet lassen, aber auch in der kühlen Jahreszeit müssen die Aerosole durch zyklisches Lüften oder raumlufttechnische Maßnahmen aus den Innenräumen verbannt werden. Zu wenig Lüften erhöht dabei das Infektionsrisiko.
„Zu viel, oder falsches Lüften, senkt die Raumtemperatur, verringert die Behaglichkeit, erhöht den Energiebedarf der Heizung und führt so zu einer weiteren Verstärkung des Klimawandels“ sagt Christoph Kaup, Vorsitzender des Fachverbands Gebäude Klima e.V. (FGK) und Honorarprofessor für Energieeffizienz und Wärmerückgewinnung am Umwelt-Campus Birkenfeld. Wir stehen vor dem Dilemma, Infektionsschutz, Klimaschutz und Nutzerakzeptanz zu vereinen.
Dazu haben die Länder in den letzten Monaten einen bunten Strauß an Empfehlungen und Anweisungen erarbeitet, deren praktische Umsetzung die Lehrkräfte in der Schule vor fast unlösbare Aufgaben stellt. Das Spektrum reicht von einfachen Fensterhängern (bunte Zettel mit der Lüftungsempfehlung 20-5-20 am Fenstergriff) über manuell auszufüllende Lüftungsprotokolle (auf Papier) bis hin zur Anschaffung von modernen Raumluftfiltern und CO2-Ampeln. Da man das Virus nicht direkt messen kann, ist der CO2-Anteil ein guter Indikator für die Menge ausgeatmeter Luft in einem geschlossenen Raum. Je höher die gemessene CO2-Konzentration in der Raumluft ist, desto höher ist das Infektionsrisiko, falls sich eine kranke Person im Raum aufhält.
Wie können wir daraus auch eine große Chance für das Bildungssystem ableiten?
Gemeinsam mit Mitstreitern der IoT2-Werkstatt (Internet der Dinge und des Denkens) aus dem nationalen Digitalgipfel und Guido Burger, einem bundesweit engagierten Maker, haben Forscher des Umwelt-Campus Birkenfeld der HS Trier schon im Sommer aufgezeigt, welches große Potential die Raumluftqualität in Schulen für die Zukunftsfähigkeit der Gesellschaft entwickeln kann. Nicht nur, dass gute Raumluft die Konzentrationsfähigkeit der Lernenden erhöht und damit eigentlich schon vor Corona ein wichtiges Thema im Bildungssystem hätte sein müssen, stellt die Beschäftigung mit den MINT-Hintergründen ein einmaliges Anschauungsobjekt für Algorithmen und das Internet der Dinge dar.
Der Selbstbau einer „IoT-CO2-Ampel“ bietet eine einmalige Chance, ein neues fächerübergreifendes Denken im Bildungssystem zu verankern. Gemeinsam im Team etwas Sinnvolles bauen, MINT und Digitalisierung anfassbar machen, Klimagase reduzieren und so die kalte Jahreszeit im Klassenzimmer erträglicher gestalten – das ist die Motivation, die in den letzten Wochen und Monaten hunderte von Selbstbauprojekten an Schulen in Deutschland und in europäischen Nachbarländern begeistert. „Wir sind überrascht von der überwältigenden Resonanz die unser Projekt ausgelöst hat und freuen uns über die vielen ehrenamtlichen Mitstreiter. Zeigt es uns doch, dass wir in der Gesellschaft noch in der Lage sind, neue Herausforderungen gemeinschaftlich zu meistern“, meint Professor Klaus-Uwe Gollmer, einer die Hauptinitiatoren der IoT2-Werkstatt am Umwelt-Campus der HS Trier.
Ein erfolgreiches Graswurzelprojekt erobert Schulen im ganzen Bundesgebiet
Die Aktion hat im Schulbetrieb viel Zustimmung gefunden. In einigen Bundesländern wird der Selbstbau auch finanziell gefördert. In Baden-Württemberg z. B. können interessierte Lehrkräfte die Mittel für Bausätze noch bis zum Sommer abrufen und die Lehrerfortbildung hat begleitend dazu Lehrmaterialien für den Unterricht bereitgestellt. Der Landkreis St. Wendel im Saarland übernimmt, unterstützt vom dortigen Innenministerium, das Konzept für seine Schulen und hat bereits über 600 Klassenräume ausgestattet, die Städte Bühl, Baden-Baden und Herrenberg folgen und bieten eigene Hackathon-Veranstaltungen als Digitalisierungsevent für Schulen und die Öffentlichkeit.
„Durch den Bau und die Programmierung der CO2-Ampeln befassen sich die Schülerinnen und Schüler begeistert mit dem Lüftungsthema. Das Selbermachen schafft Kompetenz und Verständnis für die Zusammenhänge – und Akzeptanz für die erforderlichen Maßnahmen im Unterrichtsalltag“, sagt Gerhard Bäurle, Coach am Jugendforschungszentrum Energie und Umwelt im Landkreis Böblingen.
Aber auch ohne finanzielle Unterstützung aus der Politik sind engagierte Gruppen bundesweit dabei, oft inspiriert durch die Open-Source Bauanleitungen auf der Homepage des Umwelt-Campus, den regionalen Selbstbau zu organisieren. Die Make, eine Maker-Zeitschrift aus dem Heise-Verlag verschenkt 2000 Platinen an interessierte Nachbauer:innen. Die TH Rosenheim schult die Lehrkräfte in Bayern, das zdi.NRW baut Ampeln in den Schülerlaboren Nordrhein-Westfalens und die Technologiestiftung unterstützt den MINT-Selbstbau in Berlin.
Ein flächendeckender Einsatz ist längst überfällig
Inzwischen entdecken die regionalen Wirtschaftsförderungen das Potential für die Wirtschaft. Nicht nur Schulen, sondern öffentliche Kultureinrichtungen, Behörden, Arztpraxen und der Einzelhandel lassen sich mittels Raumluftüberwachung sicherer machen.
„Es ist Pandemie und wir nutzen eine unserer schärfsten Waffen nicht – die Digitalisierung. Warum nicht?“ fragen sich Prof. Gollmer und seine Mitstreiter.
Eine digitale CO2-Ampel, egal ob selbstgebaut oder fertig gekauft, ist in der Lage, das mit den potentiell infektiösen Aerosolen ausgeatmete CO2 direkt zu messen, zu visualisieren und in der Cloud zu speichern. Damit existiert ein kostengünstiges technisches Hilfsmittel, um die Raumluftqualität zu beurteilen und den Erfolg von Lüftungsmaßnahmen sofort zu überprüfen. Das Umweltbundesamt hat entsprechende Grenzwerte publiziert, die den sicheren Aufenthalt in Innenräumen gewährleisten. Natürlich hängt das konkrete Risiko von vielen weiteren Faktoren ab (lokale Inzidenz, Virusmutationen, Aufenthaltsdauer, sportliche Betätigung usw.), der CO2-Gehalt der Luft gibt jedoch einen ersten konkreten Anhaltspunkt über mögliche Gefahren in Innenräumen. Vernetzen wir diese Messungen und stellen die Daten auf einer öffentlichen digitalen Plattform transparent bereit, so könnte dies z. B. das Vertrauen der Kunden in der Gastronomie oder beim Friseur deutlich erhöhen und so vielleicht auch schnellere Lockerungen seitens der Politik ermöglichen.
„Wir wollen keine Ampeln verkaufen, sondern die MINT-Hintergründe vermitteln und Mut machen, sich selbst mit dem Thema Digitalisierung und dem Internet der Dinge zu beschäftigen“, beschreibt Prof. Gollmer das Ziel der andauernden Aktion. „Ganz Deutschland redet von Digitalisierung – bei uns wird konkret gebaut“.