Kohleausstieg und Strukturwandel

Interview mit Nachbergbau-Experte Prof. Dr. Kai van de Loo

Potentiale des Nachbergbaus: Im Zuge der Energiewende kann die Kohleindustrie etliche Beiträge zur Umstellung auf Erneuerbare Energien liefern. (Foto: Volker Wiciok/THGA) Volker Wiciok/THGA

Bis 2038 wird jeglicher Kohleabbau in Deutschland beendet sein – so sieht es das Kohleausstiegsgesetz der Bundesregierung vor. Wie es dann mit den Jobaussichten tausender Beschäftigter in der Stein- und Braukohleindustrie und den betroffenen Regionen weitergeht, muss jetzt grundlegend gestaltet und strukturpolitisch begleitet werden, sagt Prof. Dr. Kai van de Loo vom Forschungszentrum Nachbergbau der Technischen Hochschule Georg Agricola (THGA) in Bochum. Er meint: „Den Strukturwandel haben wir noch lange nicht bewältigt.“ Das Interview führte Carmen Tomlik


@THGA

Dr. Kai van de Loo schloss sein Studium an der Universität Bielefeld und der Ruhr-Universität Bochum (RUB) 1988 mit Prädikat zum Diplom-Ökonom ab. Anschließend war er als wissenschaftlicher Mitarbeiter am Seminar für Wirtschafts- und Finanzpolitik der RUB tätig und befasste sich hier insbesondere mit allgemeiner Volkswirtschaftspolitik, Konjunkturpolitik, Industrie- und Energiepolitik sowie Wettbewerbstheorie und -politik. 1992 promivierte van de Loo an der RUB mit dem Thema „Marktstruktur und Wettbewerbsbeschränkung“ zum Dr. rer. oec. und erhielt die Auszeichnung magna cum laude. Von 1992 bis 2020 war er für den Gesamtverband Steinkohle in verschiedenen Funktionen und Mandaten tätig, u. a. zehn Jahre als Geschäftsführer der Statistik der Kohlenwirtschaft und Mitglied im Vorstand der AG Energiebilanzen, zwischenzeitlich auch ein Jahr für die EU-Kommission. Seit 2016 ist er Mitglied des Exekutivausschusses sowie des Energie- und Umweltausschusses von EURACOAL, Brüssel, und seit 2018 Chairman der EURACOAL Working Group Post-Mining.


Professor Dr. van de Loo, vor allem im Ruhrgebiet und im Saarland wird der Strukturwandel als gelungen und nahezu abgeschlossen dargestellt. Warum sehen Sie das anders?

Tatsächlich haben vor einigen Jahren Politikerinnen und Politiker behauptet, wenn der subventionierte, heimische Steinkohlenbergbau abgewickelt wäre, sei der Strukturwandel an Ruhr und Saar abgeschlossen. Heute sehen wir, wie groß der noch unbewältigte Strukturwandel der Kohleregionen auch nach dem Ende des Steinkohlenbergbaus ist. Ich verweise nur auf die überdurchschnittlich hohe Arbeitslosigkeit. Im Ruhrgebiet liegt sie inzwischen schon wieder über 10 Prozent und seit langem rund vier Prozentpunkte über der Bundesquote. Deshalb hat die Landesregierung NRW ja auch bewusst das Auslaufjahr 2018 zum Startpunkt für die Ruhrkonferenz gemacht. Außerdem ist Strukturwandel ein evolutorischer Prozess, der niemals aufhört, solange es noch eine halbwegs vitale und dynamische Wirtschaft gibt.

Sie haben sich mit der Beschäftigungslage in ehemaligen deutschen Kohleregionen auseinandergesetzt. Zu welchem Schluss kommen Sie?

Die Arbeitslosenquoten in den Kohlerevieren sind seit vielen Jahren z.T. deutlich höher als im Bundesdurchschnitt. Einzige Ausnahmen sind aufgrund günstigerer regionaler Umstände die beiden kleinsten Reviere, Ibbenbüren bei der Steinkohle (stillgelegt 2018) und Helmstedt bei der Braunkohle (stillgelegt 2016), sowie zeitweise die Lausitz, wo die Braunkohle zugleich noch eine besonders große Bedeutung für den regionalen Arbeitsmarkt hat und die Stilllegungen durch den Kohleausstieg erst beginnen, was dann auch in absehbarer Zukunft besonders in Kontor schlägt. Allen Regionen – ob von Braun- oder Steinkohleabbau geprägt – ist gemein, dass sowohl die Hauptnutzung von Kohle, die Verstromung, als auch die Gewinnung beendet werden bzw. wurden. Das bedeutet regionalökonomisch, dass allen Kohleregionen ihr industrieller Kern mit dem Kohle-Cluster vollständig stillgelegt bzw. bald entzogen wird.

Was tut die Bundesregierung, um die negativen Auswirkungen aufzufangen und neue Chancen in Nachbergbau-Regionen zu entwickeln?

Die Bundesregierung setzt mit der Summe von 40 Mrd. Euro bis 2038 vor allem auf recht umfangreiche Infrastrukturmaßnahmen im weiteren Sinne. Das ist meines Erachtens richtig und wichtig und schafft ganz wesentliche Voraussetzungen für einen langfristig erfolgreichen Strukturwandel, auch wenn da erst mal sehr viel Deckung von Nachholbedarf dabei ist. Aber es braucht auch umfängliche Anreize für private Investitionen von außerhalb und innerhalb der Kohleregionen, um dort neue Wertschöpfung und Beschäftigung zu generieren. Die neuen Arbeitsplätze müssen ja vor allem in Unternehmen entstehen und für diese attraktiv sein, nicht allein in Behörden oder Wissenschaftseinrichtungen. Diesbezüglich erscheint das Förderinstrumentarium, zurückhaltend formuliert, noch ausbaufähig.

Wie können für die betroffenen Regionen wirksame und passende Beschäftigungsimpulse gesetzt werden? Werden Kohlegruben zu Technologieparks?

Im Zuge des Strukturwandels entstehen produktive neue Stellen meist nicht nur in anderen Sektoren, sondern auch in anderen Regionen, also eben nicht an den ehemaligen Bergbaustandorten. Die bisherigen Erfahrungen der Bergbauindustrie weltweit zeigen, dass stillgelegte Bergwerke und deren Infrastruktur, wenn sie überhaupt neu genutzt werden vorwiegend kultur- oder naturnahen neuen Verwendungen zugeführt werden. Das schafft meist wenig neue Wertschöpfung und Beschäftigung. Daher benötigen ehemalige Bergbaustandorte gezielte und ausdauernde Unterstützung. Es kommt zwar immer auf die jeweiligen lokalen Gegebenheiten an, doch Potenzial für neue gewerbliche, energetische oder andere Nutzungsformen ist oft vorhanden. Als vorgenutzte Industrieflächen sind ehemalige Bergwerksareale z.B. meist infrastrukturell noch relativ gut aufgestellt und haben weniger Akzeptanzprobleme.

Wie kann die Kohleindustrie sich selbst heilen?

„Selbst heilen“ ist vielleicht zu hoch gegriffen, denn die Kohleindustrie als solche verliert ja durch die Klimapolitik komplett ihr originäres Geschäftsmodell. Aber Kohlenbergbau und Kohlenutzer – ob in Strom- und Wärmeerzeugung, Stahlproduktion oder sonstigen Segmenten – könnten und sollten Möglichkeiten bekommen, ihr Know-how und ihre nachhaltigen wirtschaftlichen Potenziale in den Strukturwandel einzubringen. Wo immer es möglich ist, sollten Wertschöpfungsketten erhalten bleiben – gerade im Interesse der Regionen und der Arbeitsplätze. Dafür gibt es verschiedene Strategien und Hebel. Aus dem Steinkohlenbergbau kennen wir etwa die wasserwirtschaftlichen Ewigkeitsaufgaben, Geomonitoring, bergbauliche Kulturgüter und Flächenentwicklung. Ökonomisch betrachtet entstehen dabei teils neue Verfahren und Produkte und künftig ganze Märkte. Im Zuge der Energiewende kann die Kohleindustrie etliche Beiträge liefern zur Umstellung auf andere Energieträger, insbesondere erneuerbare Energien einschließlich Geothermie, Nutzung von Grubengas, Strom- und Wärmespeicherung. Sie hat darüber hinaus starke Anknüpfungspunkte zu Themen wie Wasserstoffproduktion, CO2-Recycling, E-Fuels, Abfallverwertung, Kreislaufwirtschaft und diversen anderen Umwelttechnologien. Das alles lässt sich entwickeln, wenn es dafür genügend Zeit und Mittel gibt.