In einer gemeinsamen Studie haben das Berlin-Institut für Bevölkerung und Entwicklung und die Wüstenrot Stiftung untersucht, wie neue gemeinschaftliche Arbeits-, Wohn- und Kreativorte das Landleben verändern können: Bislang sieht es so aus, als läge die Zukunft in den großen Städten. Während die urbanen Zentren vor allem junge Menschen und Wissensarbeiter anziehen, verlieren abgelegene und strukturschwache Regionen weiterhin Einwohner. Das Leben auf dem Land galt lange als rückständig – wer sich frei entwickeln wollte, zog aus der Provinz nach München oder Berlin. Seit geraumer Zeit deutet sich aber ein Wandel an, den die Coronapandemie nun zu verstärken scheint. Während die Städte immer voller und teurer werden und dabei die kreativen Freiräume verschwinden, entstehen auf dem Land Coworking Spaces, neuartige Unternehmensnetzwerke und Start-ups, digitale Kreativorte sowie gemeinschaftliche Wohnprojekte. Die Digitalisierung ermöglicht diese Orte und Initiativen, die man bislang eher aus den Großstädten kannte, auch in fernen ländlichen Gebieten.
Das Interesse an einem Leben in Dörfern und Kleinstädten steigt. So locken selbst in entlegene, touristisch kaum erschlossene Alpendörfer die Gemeinschaftsbüros des Vereins CoworkationALPS Stadtflüchtige in die Berge. Im strukturschwachen Nordhessen haben sich innovative Unternehmer und Gründer zum Netzwerk Homeberger zusammengeschlossen und werben mit neuen digitalen Chancen für ihre Region. Und im Project Bay auf der Insel Rügen können Städter temporär Wohnen und Arbeiten mit Meerblick verbinden und das Landleben erproben.
Menschen zurückgewinnen
„Insbesondere für entlegene Regionen ist das eine Chance, Menschen zurückzugewinnen, die in den letzten Jahrzehnten in die Ballungsräume gezogen sind, oder sogar bislang überzeugte Städter anzuziehen“, sagt Catherina Hinz, Direktorin des Berlin-Instituts für Bevölkerung und Entwicklung. „Den Zuzug brauchen viele ländliche Regionen dringend, um dem demografischen Wandel etwas entgegenzusetzen.“ In den letzten eineinhalb Jahren haben das Berlin-Institut für Bevölkerung und Entwicklung und die Wüstenrot Stiftung insgesamt 56 solcher Projekte, Initiativen und Netzwerke sowie deren Wirkung untersucht und in der nun vorliegenden Studie „Digital aufs Land“ beschrieben.
Neue Impulse auf dem Land
Die neuartigen Orte und Initiativen sind inspiriert von der Stadt, kopieren aber nicht die dortigen Modelle, sondern orientieren sich an den aktuellen Herausforderungen ländlicher Regionen. Während in der Stadt Coworking Spaces vor allem von digitalen Freiberuflerinnen und Gründern genutzt werden, reicht die Bandbreite der ländlichen Coworker vom klassischen Digitalarbeiter, der Angestellten eines Versicherungsunternehmens über den Vereinsvorstand und Handwerker bis zur Wirtschaftsförderin. Auch wenn unter Städtern das Interesse am Land wächst, wollen nicht alle dauerhaft auf dem Dorf statt in der Stadt leben. Gerade Menschen, die in Kreativ- und Wissensberufen tätig sind, schätzen die Vorteile aus beiden Welten. Angebote wie Workation, Coliving oder auch das Landleben auf Zeit beim sogenannten Summer of Pioneers ermöglichen es ihnen, temporär auf dem Land zu leben und zu arbeiten.
„Das klassische städtische und ländliche Leben sind nicht mehr voneinander zu trennen“, sagt Dr. Stefan Krämer von der Wüstenrot Stiftung. „Die Menschen beginnen, beide Lebensmodelle miteinander zu kombinieren“.
Gemeinschaftliche Wohnprojekte sind Beispiele dafür, wie in Leerstand oder auf Brachflächen neues Leben einziehen kann. In alten Vierseithöfen oder Industrieruinen, aber auch mit Neubauten im Miniaturformat, sogenannten Tiny Houses, bauen sich Gleichgesinnte ein gemeinschaftliches Lebensumfeld auf. Viele engagierte Macher starten Angebote, die sie selbst in den Dörfern und Kleinstädten vermissen und bereichern damit das Landleben auch für andere. In sogenannten Kreativorten eröffnen sie Hightech-Werkstätten für Kinder, organisieren Festivals oder schaffen Räume für Workshops, Konzerte und Treffen aller Art. Inzwischen wagen es auch Gründer, ihre innovativen Geschäftsideen auf dem Land zu verwirklichen. Damit bringen sie nicht nur die wirtschaftliche Entwicklung ländlicher Räume voran, sondern schaffen auch neue Arbeitsmöglichkeiten sowohl für Einheimische, die auf der Suche nach einem Job sonst wegziehen würden, als auch für potenzielle neue Landbewohner.
„Ländlich ist eine neue Art von cool“, drückte es einer der Interviewpartner aus. Voraussetzung hierfür ist ein leistungsstarker Internetanschluss. Zum einen bietet es hochqualifizierten Arbeitskräften die Chance, ortsunabhängig von ihrem städtischen Büro auch auf dem Land ihrem Broterwerb nachgehen zu können. Zum anderen entstehen die von uns untersuchten neuen ländlichen Orte und Projekte, die aktuell das Leben auf dem Land modernisieren, aufgrund der digitalen Möglichkeiten.
Von Schlafdörfern zu Tagdörfern
Wer auch aus der brandenburgischen Prignitz arbeiten kann, muss nicht mehr nach Berlin pendeln. Mit der gewonnenen Zeit können sich die Landbewohner an ihrem Wohnort stärker engagieren. In Gemeinden, die auch tagsüber mit Leben gefüllt sind, lohnen sich Versorgungsangebote wieder. Wo Gründer und Start-ups sich niederlassen, füllen neue Geschäftsideen leere Ladenlokale. „Die beschriebenen Entwicklungen können neues Leben in Dörfer und Kleinstädte bringen, die in den letzten Jahren tagsüber immer mehr verwaist sind“, sagt Lena Reibstein, Mitautorin der Studie.
Ob Start-up, Kreativort oder Wohnprojekt – der Anstoß dazu geht sowohl von Zuzüglern aus, als auch von Menschen, die schon lange vor Ort leben oder in ihre Heimat zurückgekehrt sind. Zunehmend werden auch Bürgermeister vom Gründergeist inspiriert. Statt leerstehende Gebäude zu verkaufen, entwickeln sie selbst Ideenschmieden und Coworking Spaces und machen ihre Gemeinde so für Einheimische und Zuziehende attraktiver.
Hat die neue Landbewegung begonnen?
Ob Deutschland nun am Anfang einer neuen Landbewegung steht, lässt sich derzeit noch nicht abschließend beantworten. Einige Entwicklungen der letzten Jahre – vor allem seit Ausbruch der Coronapandemie – machen eine Trendwende aber wahrscheinlicher. Im Zuge des Lockdowns haben Städte zunehmend an Attraktivität verloren. Gleichzeitig verändern sich Arbeitswelten und Arbeitskulturen gerade in einer Geschwindigkeit, die lange nicht vorstellbar war. Das Leben auf dem Land wird plötzlich für mehr Menschen zu einer echten Alternative.
Kommunen sollten die Chance nutzen
Noch sind die Projekte, die wir untersucht haben, mehrheitlich zu frisch und ihre Zahl zu gering, um Aussagen über ihr langfristiges Veränderungspotenzial für den ländlichen Raum zu wagen. Mit der vorliegenden Untersuchung konnten wir zumindest lokal begrenzte Wirkungen und Effekte zeigen.
„Die neuen Initiativen bieten ein Potenzial auch für kleine und abgelegene Orte und Gemeinden, für Einheimische neue Angebote zu schaffen und neue Bewohner anzulocken“, sagt Manuel Slupina von der Wüstenrot Stiftung und ein Mitautor der Studie.
Kommunen sollten die Chance nutzen, offen für bislang vielleicht auch Unbekanntes sein und die Initiatorinnen und Initiatoren mit ihren Möglichkeiten unterstützen. Grundvoraussetzung ist jedoch, dass der ländliche Raum endlich flächendeckend mit einem schnellen Internetzugang versorgt ist. Denn ohne ein leistungsfähiges Kabel haben die Dörfer im Wettbewerb um Einwohner gegenüber den Städten keine Chance.
Die Studie steht Ihnen kostenlos zur Verfügung unter
https://www.berlin-institut.org/studien-analysen/detail/digital-aufs-land