„Die Entwicklung zur Dienstleistungs- und Wissensgesellschaft wird auch unsere Städte weiter verändern“

@Uni Bonn

Prof. Dr. Ing. Theo Kötter ist Direktor des Institutes für Städtebau, Bodenordnung und Kulturtechnik der Universität Bonn. Seine Forschungsschwerpunkte sind die nachhaltige Stadt und Dorfentwicklung, Bedarfsorientierte und wirtschaftliche Infrastruktur sowie Strategien der „Sozialen Stadt“ und des Stadtumbaus. Nach seiner Habilitation 1995 im Fach „Städtebau und Siedlungswesen“ war er Leiter der Städtebauabteilung der Landeswohnungs- und Städtebaugesellschaft Bayern GmbH in München und wechselte 1998 zur Deutschen Bau- und Grundstücks – AG in Bonn. Im Jahr 2000 folgte eine Professur für Liegenschaftswesen, Raumplanung und Bodenordnung an der Universität Hannover. Seit 2003 ist er im Institut für Städtebau, Bodenordnung und Kulturtechnik der Universität Bonn tätig.


Corona hat in den Innenstädten Probleme aufgezeigt, die wir jahrelang ignoriert haben. Denn, abgesehen von Städten wie Bonn, Münster, Osnabrück zum Beispiel und noch einigen anderen, sind viele Innenstädte austauschbar. Doch selbst hier in den genannten Städten hat der freie Markt dafür gesorgt, dass sich Macs TicoTaco und so weiter breit machen. Wir stehen jetzt davor, dass wir Schließungen registrieren, dass Douglas, die ja noch auf der edleren Seite sind, so und so viel Filialen zu schließen. Wie sehen unsere Städte nächstes und übernächstes Jahr aus?

Die Glaskugel hätte ich gerne, um das genau zu sehen. Corona hat im Grunde keine neuen Trends in Gang gesetzt, sondern das, was bereits im Laufen war, enorm beschleunigt. Eine der fatalen Wirkungen für die Innenstädte ist das Thema Online-Handel. Da hatten wir in der Vergangenheit auch schon zweistellige Zuwachsraten im Jahr und das in Konkurrenz zum stationären Einzelhandel, von dem ja nach wie vor unsere Innenstädte leben. Die Attraktivität der Innenstädte auch in Bonn und Münster ist geprägt durch die Attraktivität des Einzelhandels. Es kommen noch andere Faktoren hinzu, aber wenn der Einzelhandel als die tragende Säule in Zukunft weiter wegschmelzen wird, erodiert, wie auch immer, dann stellt sich die Frage, warum soll ich dann noch in die Innenstadt gehen, warum ist die Innenstadt dann für Besucher noch interessant, warum gehe ich dann dahin, wenn sich dieser Trend fortsetzt?

Wie sehen Sie denn – auch ohne Glaskugel – die Entwicklung?

Es spricht viel dafür, dass der stationäre Einzelhandel weiter erodiert, die aktuellen Entwicklungen zeigen das, aber es gibt auch gegenläufige Entwicklungen. Aktuelle Untersuchungen in Bonn zeigen, dass während der Pandemie die Passantenfrequenz, der Besucherstrom also, um ein Drittel eingebrochen ist. Insgesamt wurden allein in drei zentralen Straßen der Fußgängerzone neun Millionen Menschen weniger gezählt, etwa ein Drittel der Innenstadtbesucher.

Und was sind die Folgen?

Einige der befürchteten fatalen Folgewirkungen wie ein Einbrechen von Mieten und Absinken Bodenwerten als Folge verringerter Umsätze im Einzelhandel sind bislang noch ausgeblieben. Aber wenn der Trend über die Pandemie hinaus anhält, ist eine solche Entwicklung nicht mehr auszuschließen oder sogar wahrscheinlich. Allerdings ist die Entwicklung nicht einheitlich, denn in einigen Lagen sind die Mieten auch sogar noch gestiegen.  In einer Stadt mit der Größenordnung von Bonn mit ca. 330.000 Einwohnern stellt sich die Entwicklung noch mal anders dar als in kleinen und mittleren Städten. Der Trend ist gar nicht so eindeutig, nicht nur negativ sich selbst verstärkend. Das zeigen beispielsweise die gestiegenen Mieten in besten Lagen im Gewerbebereich bei Büromieten und Ladenmieten. Aber die entscheidende Frage lautet: Welche Funktionen werden wir künftig in den Innenstädten haben?  Da müssen wir kreativ werden, dass neben dem Einzelhandel andere Ankerfunktionen angesiedelt werden müssen, damit unsre Innenstädte stabil und attraktiv bleiben.

Werden die künftigen Ladeninhaber andere sein als heute, solche sich auch höhere Mieten leisten können? Gehen wir eher von der Macwelt in gehobene Segmente? Oder was zeichnet sich da ab? 

Ich glaube, die Entwicklungen, die in den letzten Jahrzehnten stattgefunden haben, dass der großflächige Einzelhandel, überhaupt der Einzelhandel, ins Umland gegangen ist, in Einkaufszentren auf der grünen Wiese, dieser Trend ist deutlich gestoppt. Abgesehen von wenigen Ausnahmen bei luxuriösen Marken werden Branchen wie Autohandel oder Möbelhäuser auch künftig in den Innenstädten natürlich keinen Platz finden. Wenn Sie sich anschauen, wo z.B. in Münster, Osnabrück und auch in Bonn neue Einkaufszentren entstehen, die unter einem Dach verschiedene Shop-in Shop-Lösungen oder auch andere Angebote vereinen, dann sieht man, dass weit über 80% teilweise sogar 90% der neuen Einrichtungen in den Innenstädten entstanden sind.

Die Bonner Innenstadt – fast ohne Menschen. © Theo Kötter

Das zeigt ganz deutlich, dass Investoren längst erkannt haben, dass Innenstädte im ökonomischen Sinne nach wie vor als die nachhaltigen Standorte eingestuft werden. Eine weitere Entwicklung kommt hinzu: Die Rückbesinnung auf die gewerbliche, nicht störende Produktion, die unter dem Schlagwort „urbane Produktion“ wieder in Innenstädten oder Innenstadtbereichen angesiedelt wird. Zusammen mit der Förderung von Start-ups aus dem kreativen Milieu, Kultureinrichtungen und vor allem auch der Stärkung des Wohnens könnten positive Entwicklungen eingeleitet werden, um die Innenstädte weiter zu stabilisieren. Das ist ein Trend, der mich positiv stimmt.

Spielt dabei die Veränderung der Arbeitswelt eine Rolle?

Die Entwicklung zur Dienstleistungs- und Wissensgesellschaft wird auch unsere Städte weiter verändern: Wir produzieren heute anders als noch vor 20 oder 30 Jahren. Gewerbliche Produktion erfolgt robotergestützt und mit erheblich weniger Emissionen bei geringerem Flächenbedarf. Eine Integration sogar in Innenstadtbereichen ist wieder möglich und findet bereits gezielt statt. Eine solche Entwicklung trägt dazu bei, dass das Leitbild der nachhaltigen Stadt durch das Modell der „Funktionsgemischten kompakten Stadt der kurzen Wege“, das heißt durch eine Mischung von Wohnen, Arbeiten, sich Versorgen bis hin zur Erholung tatsächlich realisiert werden kann. Wir brauchen dazu Modellvorhaben und den Mut zu Experimenten, um die Möglichkeiten und Grenzen für eine solche Stadtstruktur auszuloten. Einige Städte sind da auf einem guten Weg.

Was Sie beschreiben, ist ja eigentlich die mittelalterliche Struktur, wo Arbeit, Leben und Konsum ja nicht getrennt waren. Das ist ja auch das, was wir in einigen Bereichen rund ums Mittelmeer finden.

In der mittelalterlichen Stadt hatten wir tatsächlich eine kleinteilige vertikale Mischung von Funktionen. Unten im Haus die Werkstatt, daneben der Laden und darüber wurde gewohnt; also eine Funktionsmischung in einem Haus. Ob wir das so kleinteilig wieder hinbekommen, das sei mal dahingestellt. Das ist auch nicht notwendig, aber wenn wir generell wieder dahin kommen, solche Funktionen, soweit sie verträglich sind und sich nicht gegenseitig stören, keine Konflikte entstehen, wieder zu mischen, dann ist dies ein Weg in die richtige Richtung mit vielerlei Vorteilen wie Verkehrsminimierung, für die Umwelt und letztlich für die Qualität, die Vielfalt und Lebendigkeit unserer Innenstädte. Es könnte zu einer Belebung und Attraktivität der Innenstädte vor allem auch außerhalb der Geschäftsöffnungszeiten entstehen. Dies ist ein Schritt hin zur Leitidee der europäischen Stadt.

Wir leben ja in einer Marktwirtschaft. Der Vermieter einer Immobilie ist frei darin, sich seinen Mieter zu suchen. In der Vergangenheit kamen große Ketten und haben dann, umsatzstark wie sie sind, gute Mieten aufgerufen und diese Plätze besetzt. Alles das, was Sie da sagen, ist natürlich eine ganz andere Form. Doch wie kann ich das steuern. Wie kann man die Politik und eine Kommune ermächtigen, das so zu gestalten?

Dies ist eine große Herausforderung. Man muss sich die Marktmechanismen, der bisher die Innenstädte geprägt haben, sehr genau anschauen, um zu verstehen, wie die unterschiedlichen Akteure ticken und handeln. Es braucht nach meiner Einschätzung aktive Kommunen, die Visionen für ihre Innenstädte gemeinsam mit den Akteuren aus den Bereichen Einzelhandel, Produktion, Kultur, Stadtgesellschaft und natürlich Eigentümer etc. entwickeln und systematisch umsetzen. Ein Instrument, das derzeit diskutiert wird, sind fiskalische Anreize in dem Sinne von Förderungen und gezielte Besteuerungen von bestimmten Branchen und Unternehmen. So können zum Beispiel produzierendes Gewerbe in der Stadt, Unternehmensgründer, Start-ups und dergleichen mit gezielten Inzentives unterstützt und Anreize für die Rückkehr in die Innenstädte geschaffen werden. Die Wirksamkeit solcher Förderungen ist vielfach durch die Wirtschaftsförderung erprobt. Ein zweiter der Steuerungspolitik ist die kommunale Planungshoheit und die städtebaulichen Instrumente. Ich muss Planungssicherheit schaffen, wenn jemand mit der Produktion in die Stadt zurück kehrt, dann will der auch Sicherheit haben für seine Investitionen, die nicht gering sind – und das bietet z.B. die neue Gebietskategorie des Planungsrechts, das sogenannte „Urbane Gebiet“, das eine Mischungsnutzung von Wohnen und Nicht-Wohnen ganz flexibel zulässt.  Zugleich mutet es indessen den Bewohnern in solchen Quartieren eine etwas höhere Lärmbelastung zu. Das ist dann der Preis, das schafft aber auch Planungssicherheit und lebendige Urbanität.

Ökonomische Anreize und Planungssicherheit – sind das ausreichende Steuerungsmechanismen?

Ein weiterer zentraler und äußerst wirksamer Ansatz ist die kommunale Bodenpolitik. Zunehmend besinnen sich viele Städte darauf, Boden zu kaufen und zu bevorraten, statt diese kommunalen Grundstücke zum Höchstgebot zu verkaufen. Die Vergabe von kommunalen Erbbaurechten gewinnt wieder an Bedeutung und ermöglicht es den Städten viel besser, auf die Grundstücksnutzung auch in Innenstädten kleinteilig und dauerhaft Einfluss zu nehmen, und zwar ergänzend zu Festsetzungen in Bebauungsplänen, die ansonsten äußerst starr und wenig flexibel sind. Da unsere Städte sich sehr dynamisch sind und langfristige Entwicklungen eintreten können, die heute noch nicht absehbar sind, verfügen die Städte mit eigenen Grundstücken über ausgezeichnete und wirksame Steuerungsmöglichkeiten. Als Eigentümerin der Flächen können gezielte und differenzierte Vergaben von Nutzungsrechten, Erbbaurechten sehr kleinteilig erfolgen und Vereinbarungen über Mieten etc. getroffen werden, um ausreichend bezahlbaren Wohnraum auch in Innenstadtlagen im Sinne einer sozialgemischten Stadt zu schaffen. Die Mieten des freifinanzierten Wohnungsbaus sind für große Teile der Stadtbevölkerung nicht bezahlbar und führen daher zu einer Verdrängung von großen Teilen der Haushalte. Die Schaffung eines ausreichenden Angebots an bezahlbarem Wohnraum lässt sich mit planungsrechtlichen Instrumenten allein nicht erreichen.

Was muss geschehen und haben Sie Beispiele dafür?

Daher gehen viele Städte diesen Weg und versuchen, was sie in den letzten Jahrzehnten versäumt haben, wieder ein Stück weit zu reparieren, in dem sie Grundstücke kaufen, wo immer die Möglichkeit besteht und die Flächen, die sie zu Eigentum haben, nicht mehr zu verkaufen, sondern über Erbbaurechte zu vergeben. So ist beispielsweise die neue Frankfurter Altstadt u.a. auf dem freigelegten Grundstück des ehemaligen Technischen Rathauses aus den 1970er Jahren weitgehend über kommunale Erbbaugeschichte entstanden, wenngleich man über die Qualität eines solchen historisierenden Städtebaus durchaus kritisch diskutieren kann. Allerdings konnte die Stadt als Flächeneigentümerin den historischen Stadtgrundriss wieder herstellen mit der mittelalterlichen Parzellenstruktur und durch entsprechende Vergabe von Erbbaurechten bzw. Wohnungserbbaurechten mit Bauverpflichtungen für einen gezielten und zeitnahen Wiederaufbau sorgen. Dabei hat die Stadt den großen Vorteil, dass sie langfristig nach Auslaufen der Verträge z.B. nach 99 Jahren, grundsätzlich neu denken und das Quartier möglicherweise neugestalten kann, wenn sich die Anforderungen und Rahmenbedingungen geändert haben. Damit ist eine Transformation der Stadt nach Maßgabe der jeweiligen städtebaulichen Ziele möglich.

Das hört sich praktikabel an. Vor allem für Städte, die noch frei verfügbare Haushaltsmasse hat, also noch Geld hat, was ja nun nicht immer und überall der Fall ist. Da gibt es ja die Stadt Wien, die genau das macht, was Sie empfehlen, nämlich die Sache selber in die Hand zu nehmen, um auch gestalten zu können.

Es ist aber nicht nur die Stadt gefordert, sondern Städtebau und Wohnungsbau sind eine Gemeinschaftsaufgabe. Wien ist ein gutes Beispiel dafür, dass über private Initiativen und vor allem durch genossenschaftlichen Wohnungsbau bezahlbarer Wohnraum dauerhaft bereitgestellt werden kann. Wir haben in Deutschland inzwischen neben dem genossenschaftlichen Wohnungsbau vielfältige neue Konzepte wie z.B. das Syndikatsmodell. Dabei sind Eigentum und Nutzer in einer Hand so miteinander verknüpft, dass sozialverträgliche und bezahlbare Wohnungsangebote dauerhaft gesichert werden können. Solche neuen Modelle sind Teil einer „gerechten Stadt“, die durch die neue Leipzig Charta der europäischen Stadt postuliert wird.  Grundlage und Steuerungsinstrument ist eine gemeinwohlorientierte Bodenpolitik. Das Gemeinwohl ist in den letzten Jahren durch die sehr starke Stellung von Eigentümern und Investoren mit teilweise spekulativen Absichten sehr stark zurückgedrängt worden und das spüren wir sehr deutlich in unseren Städten und Innenstädten. Aus meiner Sicht gilt es eine intensive Diskussion darüber zu führen, was dient dem Gemeinwohl, was benötigt eigentlich die Stadtgesellschaft, welche Funktionen brauchen wir in unseren Städten und wie können die Städte zusammen mit der Stadtgesellschaft und allen relevanten Akteuren diese Ziele verwirklichen.

Herr Prof. Kötter, ich danke Ihnen für das Gespräch.