Paläontologen der Universität Wien konstatieren dramatischen ökologischen Wandel. In den Sand- und Schlammböden der Nordadria liegen zahllose Schalen von Muscheln und Schnecken begraben, die hier vor Jahrzehnten oder Jahrhunderten gelebt haben. Forscher um Alexandra Haselmair und Martin Zuschin vom Institut für Paläontologie der Universität Wien haben in einem vom FWF geförderten Projekt Teile dieses „Archivs“ entschlüsselt. Durch einen Vergleich mit den marinen Lebensgemeinschaften von heute zeichnen sie einen dramatischen Ökosystemwandel nach, für den ein Hauptakteur verantwortlich zeichnet: der Mensch. Die Ergebnisse wurden im Journal Marine Ecology Progress Series (MEPS) veröffentlicht.
Wo sich in der Nordadria noch vor 100 Jahren eine Vielzahl von Meerestieren in Seegraswiesen und Muschelbänken tummelte, herrscht heute biologische Eintönigkeit. Den dramatischen Wandel dieses einst so vielfältigen Ökosystems haben Forschern um Alexandra Haselmair und Martin Zuschin vom Institut für Paläontologie der Universität Wien nun in einem FWF-Projekt anhand der Schalen von Muscheln und Schnecken im Sediment nachgezeichnet und die damaligen Bedingungen mit den marinen Lebensgemeinschaften von heute verglichen.
„Veränderungen mariner Lebensräume in den letzten Jahrzehnten sind relativ gut durch ökologische Studien dokumentiert. Sehr viel schwieriger ist es, Ökosystemveränderungen zu erfassen, die sich vor der Ära der modernen wissenschaftlichen Forschung ereignet haben“, erklärt die Paläontologin Alexandra Haselmair. Eine Möglichkeit besteht darin, die Überreste von Tieren oder Tiergemeinschaften zu analysieren, die sich bis heute erhalten haben. „Muscheln und Schnecken eignen sich dafür hervorragend. Ihre Schalen überdauern lange Zeit im Meeresboden und bilden hier sogenannte Totgemeinschaften, die charakteristisch für den Lebensraum sind, den die Tiere zu ihren Lebzeiten besiedelten“, so Martin Zuschin, der Leiter der Studie an der Universität Wien.
Totgemeinschaften als Umweltarchiv
Diese Überreste sind wie ein Archiv, das Hinweise auf Umweltbedingungen verwahrt, wie sie zu Lebzeiten der Tiere unter Wasser herrschten. Kennt man die ökologischen Bedürfnisse der einzelnen Arten, lässt sich aus der Zusammensetzung einer Totgemeinschaft daher zuverlässig auf den ehemaligen Lebensraum schließen. Umweltveränderungen in der Vergangenheit zeigen sich so als Verschiebungen im Artenspektrum und können im Detail rekonstruiert werden.
„Für unsere Arbeit haben wir daher an verschiedenen Stellen in der Nordadria Proben vom Meeresboden entnommen, hunderte Arten von Muscheln und Schnecken bestimmt, diese Arten ökologischen Gruppen zugeordnet und rund 2000 Schalen altersdatiert“, erklärt Dissertantin Haselmair. „Die damit rekonstruierten Lebensgemeinschaften und Umweltbedingungen vergangener Jahrhunderte haben wir dann mit den heutigen Tiergemeinschaften und Habitaten verglichen.“
Artenvielfalt ging zurück
Dabei wurde ein dramatischer ökologischer Wandel sichtbar, der die gesamte Nordadria in den letzten Jahrhunderten erfasst hat: Arten, die die Sedimentoberfläche besiedeln, wurden seltener, solche, die im Sediment leben, häufiger. Die Artenvielfalt insgesamt ging zurück, und auch die Vielfalt der Ernährungsweisen und Lebensformtypen schrumpfte. Weidegänger, Räuber und Pflanzenfresser wurden von opportunistischen Arten verdrängt, die Plankton aus dem Meerwasser filtern oder sich von organischem Kleinstmaterial ernähren und die heutigen Gemeinschaften dominieren. So ökologisch unterschiedlich sich die einzelnen Regionen in der Nordadria früher präsentierten, so vereinheitlicht erscheinen sie heute.
„Diese Veränderungen stehen in direktem Zusammenhang mit menschlichen Eingriffen in das Ökosystem der Meeresböden. Das sind in erster Linie Bodenschleppnetzfischerei und die Einleitung von Abwässern ins Meer, was zu Sauerstoffkrisen führt“, erklärt Institutsvorstand Prof. Dr. Martin Zuschin . Diese massiven Störungen haben im Lauf der letzten hundert Jahre dazu geführt, dass etwa Seegraswiesen und Muschelbänke, die früher an vielen Stellen in der Nordadria die Bodenlebensräume prägten, heute verschwunden sind und mit ihnen eine Vielfalt an Habitaten und Tierarten.
Gefahr von Meeresschleim und Massensterben
Während in den letzten 20 Jahren die Überdüngung in der Nordadria durch verbesserte Abwasseraufbereitung, den Bau von Kläranlagen und phosphatfreie Waschmittel zurückgegangen ist, gibt es nach wie vor kaum Einschränkungen bei der zerstörerischen Bodenschleppnetzfischerei. Mit steigenden Wassertemperaturen im Zuge des Global Warming steigt zudem die Wahrscheinlichkeit für die Entstehung von Sauerstoffkrisen, Meereschleimbildungen und Massensterben von Bodenorganismen erheblich.
„Die aktuelle Umweltkatastrophe im Marmarameer vor Istanbul, wo Meeresschleim alles erstickt, steht beispielhaft für eine solche Entwicklung“, sagt Haselmair. Umso wichtiger wäre es, dem Ökosystem Nordadria durch Einschränkung der Bodenschleppnetzfischerei und durch strenge Umweltschutzauflagen eine Chance zur Erholung zu geben, warnen die Forscher*innen eindringlich.