Es ist die bislang umfassendste Studie ihrer Art: Forschende der Universität Bonn und der University of South-Eastern Norway haben untersucht, wie zwei charakteristische arktisch-alpine Pflanzenarten auf die Globale Erwärmung reagieren. Dazu haben sie fast 500 Millionen eigene Messdaten aus der Gebirgsregion Norwegens ausgewertet. Die Analysen zeigen, dass mögliche Konsequenzen des Klimawandels extrem stark von dem individuellen Standort der Pflanzen abhängen und vor allem laubwerfende Arten von einer Erwärmung profitieren werden. Als Folge würde sich der Trend zur Vergrünung der arktisch-alpinen Regionen weiter verstärken.
Die norwegischen Gebirge können in den kalten Monaten verdammt unwirtlich sein. Dennoch gibt es Pflanzen, die mit den beißenden Temperaturen hervorragend zurechtkommen. Zu ihnen zählen die Zwergbirke Betula nana und die Schwarze Krähenbeere Empetrum hermaphroditum. Beide fühlen sich unter arktisch-alpinen Bedingungen besonders wohl; sie sind daher typische Vertreter der Tundrenvegetation.
Unklar war bislang dagegen, wie das Wachstum von Zwergbirke und Krähenbeere von den konkreten Umweltbedingungen gesteuert wird. Um das zu ändern, läuft seit 30 Jahren in der Gebirgswelt Norwegens ein Projekt. „Wir haben einen Teil der Pflanzen hier verkabelt und mit sogenannten Daten-Loggern versehen, die die Messwerte aufzeichnen“, erklärt Prof. Dr. Jörg Löffler vom Geographischen Institut der Universität Bonn. So erfasst ein stiftartiger Sensor den Stammdurchmesser – und das Minute für Minute, 365 Tage im Jahr, auf weniger als einen Tausendstel Millimeter genau. Parallel dazu messen die Forscher die Sonneneinstrahlung, die Temperatur im Wurzelbereich und knapp über der Erdoberfläche sowie die Bodenfeuchte.
Schrumpfung gegen Frostschäden
In der aktuellen Studie haben die Wissenschaftler fast 500 Millionen Messdaten von 40 Pflanzen zwischen 2015 und 2019 analysiert. „Wir haben vor allem untersucht, wie sich das Mikroklima – also die Bedingungen, mit denen sich die individuelle Pflanze konfrontiert sieht – auf ihr Wachstum auswirkt“, sagt Svenja Dobbert, die in der Arbeitsgruppe von Prof. Löffler promoviert. Dabei zeigte sich sowohl bei der Zwergbirke als auch bei der Krähenbeere eine auffallende Rhythmik: In den kalten Monaten schrumpfte ihr Stammdurchmesser jeweils signifikant – ein Prozess, der sich im Frühjahr umkehrte. Doch erst im Spätsommer waren die Defizite dann soweit ausgeglichen, dass ein tatsächliches Wachstum einsetzte.
„In den kalten Monaten ist aufgrund der niedrigen Temperaturen in der Umgebung der Pflanzen kaum flüssiges Wasser vorhanden“, erklärt Dobbert den Befund. „Sie verringern ihren Stammdurchmesser zudem, indem sie den Wassergehalt ihrer Zellen sogar aktiv reduzieren, um Frostschäden zu vermeiden.“ Wie wichtig diese Strategie für das Gedeihen beider Arten ist, zeigt eine weitere Beobachtung: Pflanzen, die im Winter nur wenig schrumpften, zeigten oft im darauffolgenden Sommer kaum oder gar kein Wachstum.
Ein zweiter wichtiger Befund: Die laubwerfenden Zwergbirken wuchsen nach einem milden Winter meist besser. Sie scheinen also von einer Wintererwärmung tendenziell zu profitieren. Bei den immergrünen Krähenbeeren war es genau andersherum. „In kalten Wintern fällt in der Regel weniger Schnee“, sagt Löffler. „Für immergrüne Arten könnte das ein Vorteil sein, weil sie dann länger Photosynthese treiben können und daher im Frühjahr schneller in die Wachstumsphase übergehen.“
Möglicherweise sorgt der Klimawandel also für eine zunehmende Verbreitung laubwerfender und eine damit einhergehende Verdrängung immergrüner Arten. Da die Blätter laubwerfender Pflanzen eine vergleichsweise große Fläche haben (bei immergrünen Arten sind sie dagegen in der Regel nadelartig), könnte dieser Effekt zur weiteren Vergrünung der arktisch-alpinen Regionen beitragen.
Das Mikroklima ist entscheidend
„Allerdings zeigen unsere Ergebnisse auch, dass die mikroklimatischen Bedingungen je nach Standort extrem unterschiedlich sein können“, erklärt Löffler. So ist an exponierten, dem Wind ausgesetzten Lagen die Schneedecke in der Regel sehr dünn. Die laubwerfende Zwergbirke ist aber im Winter auf eine genügend dicke isolierende Schneeschicht angewiesen. Sie muss dann weniger Ressourcen aufwenden, um sich vor Frost zu schützen. Wenn diese wärmende Decke fehlt, hat die Zwergbirke es dagegen schwer.
Die immergrüne Krähenbeere profitiert hingegen in solchen schneefreien Zeiten von der zusätzlichen Sonneneinstrahlung. „Insgesamt belegen unsere Messungen, dass globale Klimadaten kaum valide Rückschlüsse auf lokale Vegetations-Effekte zulassen“, betont der Geograph. „Studien wie unsere können möglicherweise dazu beitragen, solche komplexen Effekte besser zu modellieren und so die Effekte des Klimawandels auf die Pflanzenwelt besser vorherzusagen.“