Wogende Wiesen mit hoch aufragenden Gräsern mitten in der Stadt: Was da so wild und natürlich wirkend wächst, ist nicht mangelnder Pflege städtischer Grünämter zu verdanken, sondern Absicht. Klingt paradox, aber Wildnis geht nicht nur „draußen“ jenseits der Stadt, sondern auch mittendrin. Wie sich Natur inmitten einer menschengemachten Umgebung entwickelt, wenn man sie temporär in Ruhe lässt, ist ein spannendes Experiment mit offenem Ergebnis.
Mit dem Projekt „Städte wagen Wildnis“ (www.staedte-wagen-wildnis.de) stellten sich die Grünflächen-Ämter in Hannover, Frankfurt am Main und Dessau-Roßlau seit 2016 dieser – in diesem Jahr endenden – Herausforderung. So wurde auf speziellen Flächen Wildnis gezielt zugelassen oder gefördert. In Dessau-Roßlau wurde auf 30 Hektar Grünfläche rund um die Innenstadt nur noch ein bis zweimal pro Jahr gemäht, näher am Stadtrand fast gar nicht mehr in die Natur eingegriffen.
In Frankfurt, wo innerstädtische Flächen vor allem kostbares teures Bauland sind, wurden zwei jeweils 15 Hektar große Areale an der Peripherie gewählt, eines davon eine ehemalige Mülldeponie. In Hannover verteilen sich ein Dutzend Flächen quer durch die Stadt bis an die Außengebiete. Das reicht von einer Kleingarten-Kolonie über Waldlichtungen und Grünzüge zu citynahen Naturwaldparzellen oder post-industrieller Wildnis mit alten Gleisanlagen wie an der „Rampenstraße“.
Allen Städten gemeinsam ist das Anliegen, Tieren und Pflanzen in der Stadt durch nur noch extensive Pflege mehr Lebensraum zu geben und damit die Artenvielfalt zu erhalten und zu fördern. Daran wiederum sollen sich die Menschen erfreuen und Natur besser schätzen lernen.
Daher werden viele Flächen seltener gemäht, wie am Grünzug entlang des Flusses Fösse, wo in grünen Inseln, die ganz ungemäht bleiben, schon Büsche und Kleinbäume wachsen. „Weniger Mähen heisst nicht weniger Arbeit“, betont Projekt-Mitarbeiterin Solveig Hesse, es müsse nur anders geplant werden, Mähfahrer wurden besonders geschult. Laut einer Befragung der Universität Hannover waren die Ergebnisse bei Anwohnern zur neuen „wilden Natur“ überwiegend positiv, so Hesse.
In Dessau-Roßlau wurden die Bürger von Beginn an durch diverse Veranstaltungen mit eingebunden, denn plötzlich ungemähte Wiesen mit meterhohen Gräsern finden nicht unbedingt sofort Akzeptanz. In Hannover wurden Stelen aufgestellt, an denen sich interessierte Spaziergänger informieren können.
Konkrete Ergebnisse über eine veränderte Artenvielfalt in den einzelnen Habitaten gibt es aktuell nicht, sagt Projekt-Mitarbeiter Christoph Zoch, Landschaftsplaner mit Schwerpunkt Freiland-Ökologie, „da haben zu viele verschiedene Faktoren Einfluss auf die Zusammensetzung der Arten, hinzu kamen die zwei Extrem-Sommer“.
Man brauche einen Mix: „Extensive Grünlandpflege ist wichtig für Tagfalter oder Wildbienen, temporäres Brach-fallen-lassen wird ein Habitat zur Überwinterung von Insektenlarven, eine wilde Weide bietet Nistplätze und fördert offene Lebensräume“. Generell gelte die Formel: Je vielfältiger die Pflege, desto vielfältiger die Lebensräume, desto vielfältiger die Arten.
Gemeinsames Ziel der drei Städte ist es, ein neues Bild von Stadtnatur zu entwickeln, das wilder, aber nicht weniger schön ist. Etliche Flächen bleiben auch in Zukunft zugänglich und werden weiter, wie im Projekt erprobt, gepflegt. In Hannover wurden sogar „Wildnis-Lotsen“ geschult, die zukünftig eigenverantwortlich kreative Ideen umsetzen können, wie mehr Wildnis in der Stadt gefördert und von den Menschen geschätzt werden kann.
Das Projekt „Städte wagen Wildnis“ wurde im Bundesprogramm Biologische Vielfalt vom Bundesamt für Naturschutz mit Mitteln des Bundesministeriums für Umwelt, Naturschutz und nukleare Sicherheit gefördert. Die Wildnis aber, sie wächst weiter, Christoph Zoch in Hannover wünscht sich daher zukünftig weitere Erfolgs-Kontrollen.