Zahlreiche Sensorsysteme in der Nordsee erfassen Wind, Luftfeuchtigkeit, Sonnenstunden und viele weitere Umweltparameter. Bei Ereignissen wie einer plötzlich einsetzenden Sturmflut oder extremen Algenblüten, die das Ökosystem Meer dramatisch beeinflussen können, soll Künstliche Intelligenz (KI) künftig autonom und frühzeitig ungewöhnliche Veränderungen in Sensordaten erkennen und geeignete Aktionen auslösen. Im Projekt ChESS (Change Event based Sensor Sampling) entwickeln das Deutsche Forschungszentrum für Künstliche Intelligenz (DFKI), die Carl von Ossietzky Universität Oldenburg und die Jade Hochschule Wilhelmshaven Oldenburg Elsfleth gemeinsam ein entsprechendes neues KI-Verfahren.
Zu einem Kickoff des Projektes trafen sich jetzt Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler der drei beteiligten Forschungseinrichtungen aus Oldenburg und Wilhelmshaven auf Spiekeroog. Die vorgelagerte Insel im niedersächsischen Wattenmeer, das zum UNESCO-Weltnaturerbe zählt, stellt einen Dreh- und Angelpunkt im Projekt ChESS dar. Zum einen liefern mobile sowie fest installierte Sensorsysteme auf und um Spiekeroog zahlreiche Umweltdaten für die Entwicklung der neuen KI-Methodik.
Zum anderen soll hier später ChESS in einer Fallstudie erprobt werden, bevor das Verfahren weltweit auch in anderen Gewässern Schule machen soll. Die Gesamtprojektleitung von ChESS übernimmt Professor Dr. Oliver Zielinski, Hochschullehrer für Marine Sensorsysteme an der Universität Oldenburg sowie Leiter des Forschungsbereiches Marine Perception am DFKI.
„Wenn wir die Ozeane schützen und die Ressourcen nachhaltig nutzen wollen, brauchen wir ein faktenbasiertes und agiles Management“, sagt der Meeresforscher und Sensorik-Experte.
Ziel von ChESS ist es, Teile des naturwissenschaftlichen Forschungsprozesses durch den Einsatz von KI zu automatisieren. Mit jeweils unterschiedlichen Schwerpunkten treiben die Wissenschaftler von DFKI, Universität und Hochschule die angestrebte Digitalisierung in den Naturwissenschaften voran.
In einem ersten Schritt konzipieren und bewerten Forschende des DFKI-Labors Niedersachsen in Oldenburg geeignete Algorithmen. Der Datenraum, in dem unzählige Messwerte ineinanderfließen, sei riesig, so Dr. Frederic Stahl, der ChESS im DFKI verantwortet:
„Mit Künstlicher Intelligenz können wir hoch-dimensionale Sensordaten schneller und effizienter erfassen und zu neuen Erkenntnissen gelangen, wie diese zusammenhängen und welche Veränderungen im Meer sie bewirken.“
Bei einer Sturmflut zum Beispiel soll die KI künftig Systemveränderungen in Echtzeit automatisch erkennen und im Moment des Geschehens Aktionen auslösen. Eine solche Aktion könnte sein, dass Autosampler getriggert werden, in kürzeren Intervallen häufiger Wasserproben zu nehmen.
Parallel zu der Programmierung entsprechender Algorithmen arbeitet die Jade Hochschule unter der Leitung von Professor Dr. Lars Nolle daran, geeignete Softwarearchitekturen zu entwickeln und zu evaluieren.
„Damit die von uns entwickelte Methodik im Anschluss von möglichst vielen Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern genutzt werden kann, muss das System harten Anforderungen hinsichtlich der Echtzeitfähigkeit und des Datendurchsatzes genügen“, erläutert Nolle und fügt an: „Auch muss das System über offene Schnittstellen verfügen und skalierbar sein.“
Ist die Methodik fertig, soll sie im nächsten Schritt anhand einer Fallstudie am Küstenobservatorium Spiekeroog getestet werden, das vom Institut für Chemie und Biologie des Meeres (ICBM) der Universität Oldenburg betrieben wird. Das Observatorium umfasst mehrere Messstationen auf und rund um die Insel. Dazu gehört ein Messpfahl im Seegatt westlich von Spiekeroog, der kontinuierlich ozeanographische, meteorologische und biochemische Daten aufzeichnet.
Die Grundwasserbeobachtung im Norden der Insel ist ebenso Bestandteil des Observatoriums wie zwölf künstliche Inseln im Rückseitenwatt von Spiekeroog, wo die Entwicklung der Lebensvielfalt untersucht wird. Beim Nationalpark-Haus Wittbülten befinden sich die im Rahmen des Observatoriums genutzten Labor- und Ausbildungsräume sowie ein Messcontainer. Für das Projekt ChESS wird die Universität Oldenburg die nötigen Umweltdaten zur Verfügung stellen und das KI-Verfahren später auch hinsichtlich seiner Effektivität bewerten.
Im Anschluss an das auf drei Jahre bis 2024 angelegte Projekt wollen die ChESS-Verantwortlichen von DFKI, Universität und Hochschule ihre entwickelten KI-Methoden und Frameworks über offene Softwareplattformen und Publikationen anderen Forschenden zur Verfügung stellen. So können die in dem Projekt gewonnenen Systeme weltweit angewandt werden, um naturwissenschaftliche Forschungsprozesse zu automatisieren.