Systemische Risiken werden von der Gesellschaft oft widersprüchlich bewertet und unterschätzt, was dazu führt, dass die Politik verzögert Maßnahmen ergreift. Wie kann die Wissenschaft in solchen Fällen unterstützen? Ein Team des Instituts für transformative Nachhaltigkeitsforschung (IASS) hat Empfehlungen für Politik und Wissenschaft zur Governance von systemischen Risiken wie etwa des Klimawandels entwickelt.
In ihrer im ‚Journal of Risk Analysis‘ erschienenen Studie untersuchen die Risikoforschenden Pia-Johanna Schweizer, Robert Goble und Ortwin Renn, warum systemische Risiken in der öffentlichen Wahrnehmung eine untergeordnete Rolle spielen und welche Dynamik damit verbunden ist.
Einer der Gründe dafür sei, dass Menschen auf kulturelle Erinnerungen an Risiken und Gefahren aus früheren Generationen zurückgreifen, die in heutigen Situationen nicht mehr schützen. So führt beispielsweise der Klimawandel dazu, dass sich die Klimaverhältnisse auch im Norden stark verändern und es zu häufigeren Extremwetter-Ereignissen kommt. Sogenannte Kipppunkte im Erdsystem lassen sich jedoch erst nach Überschreiten des kritischen Punktes nachvollziehen, doch dann ist es zu spät, um gegenzusteuern.
Vor dem Erreichen eines Kipppunktes erscheinen systemische Risiken für viele Menschen räumlich und zeitlich weit entfernt und dadurch weniger gefährlich als Risiken, die die Menschen unmittelbar bedrohen, so folgern die Autoren. Insbesondere seien sie weniger leicht verständlich und aufgrund ihrer Komplexität sowie Nichtlinearität weniger präsent im Bewusstsein der meisten Menschen.
„Selbst wenn ein systemisches Risiko wie der Klimawandel die Funktion lebenswichtiger Systeme der Gesellschaft bedroht, verspüren Viele weniger Dringlichkeit, das eigene Verhalten zu ändern oder strengere Regulierungsmaßnahmen zu akzeptieren“, erläutert IASS-Wissenschaftlerin Schweizer.
„Wir Gesellschaftswissenschaftler beobachten hier zwei Effekte, die ineinandergreifen: Zum einen fragen sich die Menschen, was sie mit ihren eigenen Handlungen bewirken können, wenn große Konzerne und die Mehrheit der Menschen am ‚business as usual‘ festhalten. Zum anderen haben Menschen die fatalistische Wahrnehmung, dass es eh zu spät ist, um systemischen Risiken wie dem Klimawandel entgegen wirken zu können.
Die Autoren skizzieren ebenso die dynamischen Prozesse der gesellschaftlichen Wahrnehmung systemischer Risiken und untersuchten für ihre Analyse die Gründe für die mangelnde Aufmerksamkeit der Politik als auch der Öffentlichkeit dafür. „Wir konnten feststellen, dass sich die Wahrnehmung systemischer Risiken bei einem Großteil der Bevölkerung durch soziale Kommunikationsprozesse eher verringert als verstärkt“, sagt Hauptautorin Schweizer, „was effektiv zu einer geringeren Handlungsbereitschaft führt etwa im Falle des Klimawandels.
Die gegenwärtigen Bemühungen sind unzureichend, um die Temperaturziele des Pariser Abkommens noch einzuhalten. Vielmehr wird darauf vertraut, dass Techniken wie Climate- und Geo Engineering-Techniken, die gegenwärtig noch nicht im großen Stil anwendbar sind, in Zukunft wesentlich dazu beitragen werden, die Klimaziele zu erreichen.“
Risiko wird im öffentlichen Diskurs heruntergespielt
Beim Umgang mit systemischen Risiken bezeichnet das Autorenteam die mangelnde Handlungs- und Änderungsbereitschaft als das maßgebliche Hindernis einer effektiven Risiko-Governance. Die folgenden Faktoren (unter anderen) führten ihrer Meinung nach zur Unterschätzung des Risikos:
- Weil die meisten Wirkweisen von systemischen Risiken komplex und dynamisch sind, scheinen sie der menschlichen Intuition zu widersprechen. Die Menschen neigten dazu, sie als weniger plausibel und naheliegend einzustufen.
- Die Wissenschaft könne keine unumstößlichen und eindeutigen Modelle für systemische Risiken liefern. Was dazu führe, dass Menschen Informationen, die mit Unsicherheit, Ungewissheit und Mehrdeutigkeit verbunden sind, als noch nicht ausgegoren und vor allem als wenig handlungsrelevant einschätzten, selbst wenn diese Informationen auf einer soliden wissenschaftlichen Analyse beruhen.
- Erforderlich sei mehr Vertrauen in wissenschaftliche Einschätzungen. Die Wenigsten seien in der Lage, die Korrektheit wissenschaftlicher Argumente in einer öffentlichen Debatte zu beurteilen. Dass sich zudem die Anhaltspunkte im Laufe der Zeit ändern und oft widersprüchlich sind, irritiert und frustriert viele, was letztlich zu Fatalismus und damit einhergehender Untätigkeit führe.
- Die Fehldeutung von systemischen Risiken werde durch digitale Kommunikationsmittel verbreitet, welche die Echokammern im öffentlichen Diskurs noch verstärken. Infolgedessen polarisieren sich die Wissenslager und differenzierte Ansätze werden ausgeblendet, die für den Umgang mit systemischen Risiken entscheidend wären.
Für die Wissenschaft ergeben sich für das IASS-Autorenteam daher zwei Aufgaben: Eine sei Entscheidungsfindungsprozesse mit Expertise zu unterstützen. Wissenschaftler sollten in interdisziplinären Teams ihr Wissen um die komplexen Wirkmechanismen von systemischen Risiken zusammentragen und gegenüber Politik und Öffentlichkeit durch nachvollziehbare Narrative und realitätsnahe Illustrationen in Form von grafischen Darstellungen und Simulationen zu kommunizieren. Ebenso empfiehlt das Autorenteam Gaming-Tools, um einen partizipativen, deliberativen Ansatz für eine umfassende Risiko-Governance zu vermitteln.
Diese kommunikativen Formen der Verständigung sollen Entscheidungsträgerinnen und -träger wie auch die Öffentlichkeit gleichermaßen befähigen, umsichtige und dem Problem angemessene Maßnahmen einzuleiten.
Die andere Aufgabe sei es, bei der Risiko-Governance einen integrativen Ansatz zu verfolgen, um viele wissenschaftliche Disziplinen genauso wie Organisationen und Behörden zusammenzuführen. Ziel sei es, Kommissionen oder Steuerungsgruppen interdisziplinär, querschnittsorientiert und integrativ auszurichten. Einfließen müssen verschiedene Interessen, Perspektiven und Wertvorstellungen, um Risiken umfassend bewerten zu können.
Systemische Risiken können verheerende Auswirkungen haben, so das Fazit des Autorenteams. Jedoch könne diese Gefahr gemindert und systemische Risiken besser gemanagt werden, wenn erkannt wird, welche sozialen Prozesse die Wahrnehmung von systemischen Risiken beeinflussen.