Infektionszahlen auf Rekordniveau, Intensivstationen im Ausnahmezustand – kein guter Zeitpunkt für Uneinigkeit in der Gesellschaft. Als Soziologe an der Katholischen Universität Eichstätt-Ingolstadt (KU) beschäftigt sich Prof. Dr. Joost van Loon auch mit Fragen von Gesundheitskommunikation. „Anfangs lief die offizielle Kommunikation erstaunlich gut und war Vorbild für andere Länder. Es wurde klar artikuliert, dass der Schutz der Bevölkerung an erster Stelle steht. Im weiteren Verlauf der Pandemie sind aber viele andere Interessen neben die des Gesundheitsschutzes getreten, so dass die Kommunikation an Eindeutigkeit verloren hat“, sagt van Loon.
Hinzu komme, dass etwa Berichte über die Maskenaffäre die Glaubwürdigkeit der Politik untergraben hätten. „Aber ohne Glaubwürdigkeit lässt sich keine Risikokommunikation betreiben.“ Zwar gebe es in Deutschland bei 75 bis 80 Prozent der Bevölkerung eine pragmatische Akzeptanz für die Maßnahmen. Im Umkehrschluss denke ein Viertel der Menschen nicht so. „Das ist nicht wenig!
Das größte Problem an dieser Gruppe ist, dass sie nicht interessiert ist an Wissenschaft und deren Verfahren. Sie suchen nur nach Ergebnissen, die ihre Haltung bestätigen. So entsteht eine Sammlung an Aussagen und Informationen, die eine eigene Realität kreieren. Wer da drin ist, kommt nur ganz schwer raus, weil alles unter Verdacht steht“, so van Loon. Durch den gegenseitigen Verweis von Falschinformationen würden in sozialen Medien mittlerweile Risiken generiert, die nichts mehr mit der Wirklichkeit zu tun hätten.
Der Inhaber des Lehrstuhls für Allgemeine Soziologe und Soziologische Theorie sieht die Anfänge einer solchen Lagerbildung international in den 1970er-Jahren. Ein Zurückfahren des Wohlfahrtsstaates sei damals verbunden worden mit dem Versprechen, dass der Markt alles zum Besseren verändern werde, was jedoch nicht erfolgt sei. Dies habe nicht nur Auswirkungen auf Sozial- und Wirtschaftspolitik, sondern auch Kultur und Medien gehabt.
Die kommerzielle Logik treibe mittlerweile auch nicht-kommerzielle Medien. „Es hat ein Wandel stattgefunden von einer Öffentlichkeit der Diskussion hin zu einer Öffentlichkeit der Behauptungen und Meinungen. In der Soziologie gibt es dafür den Begriff der ,Culture Wars‘, in denen Teile der Gesellschaft nicht mehr miteinander debattieren können.“
In der Corona-Zeit führe das dazu, dass es keine Debatten mehr gebe, sondern nur noch Lager, die ihre Behauptungen vertreten. Dazwischen gebe es keine Brücken mehr. Dies habe man auch vor dem Hintergrund der Flucht-Thematik, der Finanzkrise oder rund um Fragen des Klimawandels beobachten können. Für die Wissenschaft sei es damit schwieriger geworden, denn ihre Erkenntnisse würden ihren Wert durch die Prämisse gewinnen, dass sie nicht aufgrund bestimmter Interessen vorbestimmt seien.
Doch ein Großteil der Menschen denke zumindest, dass es keine bessere Alternative zu den Maßnahmen gebe. Das bedeute zwar nicht, dass diese Menschen ein großes Vertrauen in die Politik hätten, deren Glaubwürdigkeit gesunken sei. „Wichtiger ist, dass diese Menschen immer noch durch ihr Handeln zeigen, wie sehr ihnen an einer Lösung gelegen ist und sie sich beteiligen wollen. Ich finde, das gibt Hoffnung!“ Nicht alle müssten zutiefst überzeugt sein, aber man müsse Menschen in ihrem Pragmatismus bestärken. Zudem müssten wissenschaftliche Prozesse für die Bevölkerung noch transparenter gestaltet werden.
Van Loon plädiert außerdem dafür, dass Politiker etwa vor dem Hintergrund der Maskenaffäre generell auf Nebentätigkeiten verzichten: „Wenn man ein politisches Amt wirklich ernstnimmt, sollte man meiner Meinung nach gerade in Krisenzeiten alle Nebenjobs ablehnen. Ansonsten macht man nicht nur seine eigene Position unglaubwürdig, sondern Politik an sich.“
Toleranz in Zeiten der Pandemie sei kein normativer oder moralischer Aspekt, sondern eine Frage der Verteilungsgerechtigkeit: „Als gut abgesicherter Akademiker brauche ich selbst zum Beispiel keine Hilfe – im Gegensatz zu einer alleinerziehenden Verkäuferin, von der viel mehr Toleranz eingefordert wird.“
Generell seien Gesellschaften sehr fragile Gebilde, wie zum Beispiel der Krieg im ehemaligen Jugoslawien gezeigt habe. Doch meist gebe genügend Menschen, die nicht nur ihre eigenen Interessen durchsetzen wollten. Diejenigen, die dafür sorgen, dass es weitergehe, machten einfach ihre Arbeit. Ehrenamtliche etwa hätten in der Pandemie gar keine Zeit, um sich an einer Mythenbildung zu beteiligen. „Soziale Medien bilden hier somit auch kein authentisches Bild ab, weil sich dort eine laute Minderheit artikuliert. Wir können uns keinesfalls zurücklehnen, aber es ist auch nicht hoffnungslos.“