Damit Metropolen wie Berlin im 21. Jahrhundert lebenswert bleiben, müssen sie sich tiefgreifend wandeln. Klimawandel, Ressourcenverbrauch, Digitalisierung, knapper Wohnraum, Migration sowie prekäre Arbeitsverhältnisse erfordern es, den Umgang mit sozialen und ökologischen Krisen neu zu denken. Dem Umdenken müssen alternative Lösungen folgen, insbesondere in der Wirtschaft. Dabei kann Berlin auf eine lange Tradition alternativer Wirtschaftsweisen und Lebensstile zurückblicken.
Damals wie heute hinterfragen Unternehmen und Initiativen konventionelle Produkte und Dienstleistungen und ersetzen diese durch nachhaltigere Alternativen. Sie versuchen, mit alternativen Geschäftsmodellen, Organisationsformen und Finanzierungsquellen einen nachhaltigen Beitrag zum Gemeinwohl zu leisten. Das Institut für ökologische Wirtschaftsforschung (IÖW) hat gemeinsam mit dem Öko-Institut die breite Vielfalt dieser alternativwirtschaftlichen Ansätze in Berlin untersucht.
In der Studie „Anders wirtschaften in Berlin“, die mit Förderung vom Regierenden Bürgermeister, Senatskanzlei – Wissenschaft und Forschung im Forschungsverbund Ecornet Berlin durchgeführt wurde, empfehlen die Wissenschaftler*innen der Berliner Politik, alternativwirtschaftliche Akteure zu fördern und die positiven Entwicklungschancen für die Stadtgesellschaft und eine sozial-ökologische Regionalentwicklung zu nutzen.
Gesucht: Räume für alternatives Wirtschaften
„Die Beiträge und das Potenzial alternativer Wirtschaftspraktiken sind in der Öffentlichkeit und der Politik noch viel zu wenig bekannt“, sagt Studienleiter Christian Lautermann vom IÖW über die Motivation für die Studie. „Daher haben wir in enger Tuchfühlung mit den Akteuren alternativen Wirtschaftens in Berlin ein Bild ihrer vielfältigen Praktiken, aber auch ihrer spezifischen Bedürfnisse gezeichnet.“ Dabei wurde deutlich, dass Unternehmen und Initiativen in dem aufgeheizten Immobilienmarkt immer häufiger vor dem Problem stehen, Räume für ihre unternehmerischen Aktivitäten und für die Vernetzung zu finden.
„Hier ist die Politik gefragt, mehr Unterstützung zu bieten“, so Lautermann. „Der neue Berliner Senat will die Handlungsbedingungen für nachhaltiges und solidarisches Wirtschaften in Berlin verbessern. Dazu soll den Akteuren insbesondere der Zugang zu öffentlichen Aufträgen und Fördermitteln erleichtert werden. Er verspricht auch Unterstützung dabei, einen Ort für nachhaltiges Wirtschaften zu schaffen. Nun müssen den Worten im Koalitionsvertrag rasch Taten folgen“, fordert der Wirtschaftsexperte.
Dit is Berlin: Schokofabrik, Schnittstelle, Ecosia, Hacke & Hobel, Circles
In fünf Fallstudien stellen die Forschenden ausgewählte etablierte und neue alternativwirtschaftliche Aktivitäten in Berlin vor, um in der Vielfalt unterschiedliche Handlungsansätze, Erfolge und Unterstützungsbedarfe aufzuzeigen, darunter:
- Europas größtes Frauenzentrum, die „Schokofabrik“ in Berlin-Kreuzberg, die selbstorganisierte Räume und Angebote für ausgegrenzte Gruppen anbietet
- Das Vertriebskollektiv „Schnittstelle“, das einen solidarischen Direktbezug von Produkten ökologischer Hersteller organisiert
- die Internetsuchmaschine „Ecosia“, die mit ihren Einnahmen weltweit Bäume pflanzt, um zum Klimaschutz beizutragen
- der solidarische Kollektivbetrieb Hacke & Hobel, der u. a. Garten- und Landschaftsbau, eine Bau- und Möbeltischlerei sowie Kita- und Spielplatzbau betreibt
- das Projekt Circles, das Nutzer*innen über ein dezentrales, komplementäres Währungssystem ein bedingungsloses Grundeinkommen ermöglichen und lokale Wirtschaftsgemeinschaften stärken will
„Unsere Fallstudien zeigen, dass die alternativwirtschaftlichen Ansätze divers sind,“ erläutert IÖW-Forscherin Sabrina Schmidt. „Was sie eint, ist, dass sie mit unkonventionellen, teils radikalen Ansätzen eine soziale und ökologische Mission verfolgen. Damit sie ihre positiven Wirkungen in der Gesellschaft ausbauen können, bedarf es in der Politik eines neuen Wirtschaftsverständnisses.“
Eine Politik zur Förderung alternativer Wirtschaftsweisen sollte nicht nur bei einzelnen Unternehmen ansetzen, etwa indem bestehende Programme der Wirtschaftsförderung für deren Bedarfe geöffnet werden. Sie muss auch das Beziehungsgeflecht und die lokale Verankerung alternativen Wirtschaftens in den Blick nehmen. „Wir empfehlen, lokale Vermittlungsstrukturen einzurichten, an denen Vertretungen aus alternativen Unternehmen und der Zivilgesellschaft beteiligt sind, beispielsweise nach dem Vorbild der Arbeits- und Koordinierungsstelle für gemeinwohlorientierte Stadtentwicklung des Bezirks Friedrichshain-Kreuzberg“, so die Ökonomin.