Fluchtforscherin Prof. Dr. Birgit Glorius von der TU Chemnitz über die aktuelle Lage der Flüchtlingsbewegung aus der Ukraine und kommende Herausforderungen für die Bundesrepublik Deutschland: Prof. Dr. Birgit Glorius ist Inhaberin der Professur Humangeographie mit dem Schwerpunkt Europäische Migrationsforschung an Technischen Universität Chemnitz und Expertin für die Themen Migration sowie das europäische Asylsystem. Im Interview blickt sie auf die Lage in der Ukraine und ordnet die Flüchtlingsbewegung im historischen Vergleich mit dem Jahr 2015 ein. Zugleich blickt sie nach vorn und skizziert weitere Entwicklungen und Konsequenzen insbesondere mit Blick auf Deutschland.
Frau Glorius, in den ersten zehn Tagen des Ukraine-Krieges sind schätzungsweise eineinhalb Millionen Menschen geflohen. Wie schätzen Sie die weitere Dynamik ein?
Das ist sehr schwer abzuschätzen und hängt natürlich vom weiteren Verlauf und der Intensität der Kriegshandlungen ab. Damit verbunden ist auch die Frage, wie lange die Menschen die am stärksten umkämpften Großstädte überhaupt verlassen können. Denn vor allem von dort fliehen derzeit die Menschen. Die Dynamik ist derzeit jedenfalls enorm und setzt vor allem die Anrainerstaaten der Ukraine unter Druck. Allen voran Polen, wo in den ersten zehn Tagen seit Beginn des Krieges rund 900.000 Menschen angekommen sind. Zum Vergleich: Das sind in etwa so viele, wie in Deutschland zum Höhepunkt der sogenannten Flüchtlingskrise 2015 angekommen sind – aber im gesamten Jahr! Insgesamt sind in den ersten zehn Tagen eineinhalb Millionen Menschen geflohen. Auch das entspricht der Gesamtzahl aller in die EU Geflüchteten im ganzen Jahr 2015 – dem bislang stärksten Jahr der Flüchtlingsankunft seit dem Ende des Zweiten Weltkrieges. Aber nicht nur Polen, auch die anderen Anrainer-Staaten dürfen nicht aus dem Blick geraten. Darunter Ungarn, Rumänien, die Slowakei und vor allem Moldawien, das ökonomisch ärmste Land Europas. Dort sind in den ersten zehn Tagen schätzungsweise 240.000 Menschen angekommen – bei einer Gesamtbevölkerung von geschätzt 2,6 Millionen sind das weitaus mehr Geflüchtete pro Kopf, als in Polen. Selbst wenn ein Großteil der Angekommenen bereits weitergereist ist, bedeutet dies eine riesige logistische Anstrengung im Bereich der Erstversorgung.
Manche Analysen gehen davon aus, dies sei die größte humanitäre Krise in Europa seit dem Ende des Zweiten Weltkrieges.
Davon ist auszugehen, vor allem wenn der Krieg in dieser Intensität weiter geführt wird – und danach sieht es leider aus. Nimmt man die Zahlen aus der Ostukraine als Vergleichsmatrix, wo seit dem Beginn der Besetzung 2014 etwa jeder und jede Vierte geflohen ist, hätten wir in Europa mit einer Größenordnung von zehn Millionen Ukraine-Flüchtlingen zu rechnen. Aber das ist, wie gesagt, derzeit völlig hypothetisch und nicht wirklich seriös vorhersagbar.
Wo werden all diese Menschen unterkommen?
Durch die derzeit geltenden Richtlinien können Ukrainer frei in Europa reisen, so dass viele von ihren ersten Ankunftsorten in den Anrainer-Staaten weiterreisen – häufig zu Freunden und Verwandten in anderen Staaten Europas. Die ukrainische Diaspora in Europa ist groß, so dass viele in dieser allerersten Flüchtlingsbewegung durch private Netzwerke aufgefangen werden. Doch das wird sich ändern, denn natürlich haben nicht alle entsprechende persönliche Netzwerke. Dabei können wir davon ausgehen, dass viele Ukrainer zunächst auf eine baldige Rückkehr hoffen. Doch mit der Zeit, vor allem, wenn die Zerstörungen zunehmen und der politische Konflikt beigelegt werden kann, werden sie aus den Ländern der ersten Zuflucht, wie zum Beispiel Polen, weiterwandern.
Während der sogenannten „Flüchtlingskrise“ von 2015 haben sich vor allem die mittelosteuropäischen EU-Staaten gegen eine Aufnahme von Geflüchteten gewehrt. Das scheint heute anders zu sein. Haben Sie dafür eine Erklärung?
Das stimmt. Wir sehen derzeit gerade in Polen, im Unterschied zu 2015, eine überwältigende Hilfsbereitschaft, getragen von großem Mitgefühl für das Schicksal der Ukrainer. Das ist der geopolitischen Gesamtlage geschuldet. Zunächst ist die Ukraine der unmittelbare Nachbarstaat, Polen gehört zu den naheliegenden Zufluchtsorten. Das eigene Engagement wird damit unmittelbar begreifbar und auch politisch vermittelbar, während es 2015/16 um die Aufnahme von Flüchtlingen aus weiter entfernten Konfliktregionen ging, für die man sich weniger zuständig fühlte. Dazu kommt natürlich noch die Verbundenheit durch die gemeinsame post-sowjetische Geschichte, eine ähnliche Sprache und Kultur sowie die persönliche Bekanntschaft zu Ukrainern. Immerhin arbeiten hunderttausende Ukrainer in Polen. Demgegenüber waren die Geflüchteten 2015 in gewisser Weise fremd und man hatte große Vorbehalte, vor allem gegen Muslime.
Im Vergleich zu 2015 gab es vor allem in Deutschland große Debatten um eine faire Verteilung innerhalb der EU. Unvergessen sind die zum Teil öffentlich ausgetragenen Differenzen vor allem mit den ost- und südeuropäischen Mitgliedsstaaten. Wie ist die EU-Asylpolitik heute im Vergleich zu 2015 einzuschätzen?
Der größte Unterschied ist, dass 2015 die EU-Staaten auf den Dublin-Regularien bestanden hatten, wonach das erste EU-Land für das Asylverfahren zuständig ist, in das Asylsuchende ankommen. Das waren damals Griechenland und Italien. Eine regelhafte Umverteilung war damals nicht gewollt, weil man befürchtete, dadurch eine Sogwirkung auf andere Geflüchtete außerhalb der EU, zum Beispiel in der Türkei und im Libanon, auszulösen. Die Aufnahme von Syrern in Deutschland 2015 wurde auf Bundesebene dann durch die Aussetzung der Dublin Richtlinie geregelt. Dafür hat Kanzlerin Merkel viel Lob und viel Kritik erhalten, und sie stand in Europa damals ziemlich allein da. Im Unterschied dazu hat sich jetzt der Rat der Europäischen Union dazu entschlossen, die sogenannte „Temporary Protection Directive“ für die Flüchtlinge aus der Ukraine in Kraft zu setzten. Diese gibt es seit 2001 und sie wurde damals im Nachgang der Bürgerkriege im ehemaligen Jugoslawien entwickelt. Sie bietet einen Mechanismus, über den Vertriebene aus Drittländern, die nicht in ihr Herkunftsland zurückkehren können, schnell aufgenommen werden können. Diese Direktive wird nun das erste Mal angewandt. Der große Vorteil ist, dass Geflüchtete unter dieser Richtlinie sofort einen temporären Schutzstatus und Zugang zum Sozialsystem, zum Bildungssystem und zum Arbeitsmarkt erhalten, ohne jegliche Restriktionen. Das wird die Stabilisierung der persönlichen Situation dieser Menschen stark befördern und auch ihre gesellschaftliche Inklusion erleichtern. Das ist ein erheblicher Unterschied zu 2015 und 2016, wo viele Geflüchtete monate- bis jahrelang auf den Ausgang ihres Asylverfahrens warten mussten – während sie in dieser Zeit von gesellschaftlicher Teilhabe größtenteils ausgeschlossen waren. Ein weiterer Unterschied zu 2015 ist, dass sich diesmal die EU-Mitgliedstaaten die Verantwortung für die Aufnahme von Geflüchteten teilen wollen.
Worauf sollte sich den Deutschland Ihrer Meinung nach einstellen? Haben wir aus der Situation aus 2015 gelernt?
Sicherlich haben wir sehr viel gelernt, unter anderem was nach der unmittelbaren Erstaufnahme alles nötig ist und dass dies vor allem in den Kommunen verankert werden muss – aber in enger Abstimmung mit der Länder- und Bundesebene. In vielen Kommunen ist das Know-how noch vorhanden, sowohl aufseiten der Behörden als auch in der Zivilgesellschaft. Allerdings wurden viele Strukturen in den letzten Jahren auch zurückgebaut. Dennoch dürfen wir nicht verhehlen, dass wir es hier mit einer Massenankunft zu tun haben werden, das zeichnet sich bereits jetzt ab. Meine persönliche Prognose ist, dass die Ankünfte in diesem Jahr die Zahlen von 2015 auf jeden Fall übersteigen werden. Die Skala ist nach oben offen. Das wird sich bereits in den nächsten Wochen abzeichnen, insofern die Kriegshandlungen weitergehen. Und all diese Menschen brauchen eine erste Zuflucht, gefolgt von Wohnraum, Bildungsmöglichkeiten, Sprachkurse, psychosoziale Unterstützung und menschliche Anteilnahme. Das wird auch für Deutschland die größte humanitäre Herausforderung seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs.