Die extrem klimaschädliche Kohle bleibt noch immer Haupt-Stromquelle der Welt: Die globale Kraftwerksleistung beträgt über zweitausend Gigawatt und wächst trotz Kraftwerksabschaltungen global weiterhin an. Wie funktioniert die „politische Ökonomie“, das Geflecht der Macht- und Entscheidungsstrukturen zugunsten von Kohle? Antworten für acht wichtige Kohle-Länder – und Ansatzpunkte für Veränderung – liefert jetzt eine wissenschaftlich konzipierte Umfrage unter internationalen Fachleuten. Die entsprechende Studie des Berliner Klimaforschungsinstituts MCC (Mercator Research Institute on Global Commons and Climate Change) ist in der renommierten Fachzeitschrift Energy Research & Social Science veröffentlicht.
Das Forschungsteam schaut dorthin, wo Kohlenutzung weiterhin ausgebaut wird: nach China, Indien, Indonesien, Vietnam, die Philippinen, die Türkei, Südafrika und Japan. Es identifiziert Top-Fachleute aus Wissenschaft und Praxis mit länderspezifischen Kenntnissen und befragt sie entlang des am MCC entwickelten Konzepts „Actors, Objectives, Context“: Wer sind die Mächtigen im jeweiligen Land, was sind ihre Ziele, und was bestimmt deren Stellenwert, also letztlich den Energiemix? Nach diesem Konzept hatte das MCC kürzlich bereits ein Kompendium mit Fallstudien vorgelegt.
„Dieses Paper ist dazu komplementär“, erklärt Nils Ohlendorf, Doktorand in der MCC-Arbeitsgruppe Klimaschutz und Entwicklung und Leitautor. „Die systematische Abfrage von 77 möglichen Einflüssen, mit einer fünfstufigen Niedrig-Hoch-Skala, schafft dabei erstmals einen länderübergreifend vergleichbaren quantitativen Befund, der Rückschlüsse über grundsätzliche Hindernisse eines globalen Kohleausstiegs aufzeigt.“
Ausgewertet wurden 123 von den Top-Fachleuten ausgefüllte Fragebögen. Daraus lassen sich Rückschlüsse ziehen, warum die Kohle-Verstromung weiterhin ausgebaut wird: In allen acht untersuchten Ländern spielen die innere Struktur des Energiesektors und seine Verflechtung mit der Politik eine große Rolle. Zudem hilft Kohleausbau diesen Ländern beim Erreichen vorrangiger Ziele wie Wirtschaftswachstum, Energiesicherheit und niedrige Stromkosten. Umwelt- und Klimaschutz rangieren dagegen meist weit hinten. Lobbyismus, also direkte Einflussnahme auf den politischen Entscheidungsprozess, spielt eine herausragende Rolle in allen Ländern, unabhängig vom politischen und ökonomischen System.
Die Studie identifiziert auch die zentralen Akteure für die Kohle: In allen acht Ländern sind Energieministerien, Staatsführung und Regierungspartei besonders wichtig. In China spielt auch das Planungsministerium eine herausragende Rolle, auf den Philippinen und in Südafrika das höchste Gericht. In Japan sind die Industrieverbände stark involviert, Gewerkschaften insbesondere in Südafrika. In der Unternehmenswelt machen sich überall Energieversorger in besonderem Maße für die Kohle stark, zudem Schwerindustrie und Banken. In Indien ist es zusätzlich die Eisenbahngesellschaft (die mit Geld aus Kohletransport vergünstigte Personentickets finanziert) und in Indonesien die Bergbauindustrie.
Die Studie ermittelt mit statistischen Methoden typische Ausprägung der Kohle-Abhängigkeit und häufige Kombinationen von wichtigen Akteuren, Zielen und Rahmenbedingungen. Darauf gestützt wagt es auch einige Aussagen dazu, wie man die politische Ökonomie der Kohle aushebeln könnte: den Stromsektor entflechten, um seinen politischen Einfluss zu mindern, die Energiewende in Schwellenländern mit den vorherrschenden Zielen Wachstum und Wettbewerbsfähigkeit in Einklang bringen, lokale Widerstände durch internationale Koordination und Klimafinanzierung aufbrechen.
„Die Ergebnisse helfen uns bei der Suche nach effektiven Politikinstrumenten, um den Kohlezubau zu stoppen“, erklärt Jan Steckel, Arbeitsgruppenleiter am MCC und einer der Co-Autoren. „Die UN-Klimakonferenz 2021 in Glasgow hat ja die Staaten der Welt erstmals dazu aufgefordert, den Ausstieg aus der Kohle einzuleiten. Damit das nicht ein frommer Wunsch bleibt, müssen wir verstehen, wo genau die politischen Schwierigkeiten liegen. Nur dann können wir die Erderhitzung noch auf 1,5 Grad begrenzen.“