Vereinssterben im ländlichen Raum

Digitalisierung als Chance  Teil 3

15.547 Vereine in ländlichen Regionen haben sich seit 2006 aufgelöst und wurden aus den Vereinsregistern gelöscht. Die Auflösung von Vereinen ist damit ein vorwiegend ländliches, deren Gründung ein städtisches Phänomen. Bestehende Vereine in ländlichen Regionen kämpfen besonders häufig damit, neue Engagierte zu gewinnen. Auch ihr Bestand ist damit gefährdet.

Digitaler Fortschritt erleichtert es Ehrenamtlichen, sich zu engagieren und Mitstreiter zu gewinnen. Es ist wichtig, dass Vereine die Chancen digitaler Technologien für gute Zwecke nutzen können – gerade auch um junge Menschen besser zu erreichen.

Fallstudien aus der Praxis

Sharing-Plattform für Tafel-Arbeit auf dem Land

Der Tafel Ginsheim-Gustavsburg e.V. in Hessen ist das Problem sinkender Engagiertenzahlen in ländlichen Regionen aus erster Hand bekannt. Immer wieder warfen Ehrenamtliche in verantwortungsvollen Positionen das Handtuch. Zu viel Zeit wurde durch administrative Tätigkeiten geschluckt. Zu kurz kam dadurch die tägliche Arbeit mit und für Menschen. Sonja Ritz und Gabriele Fladung, die die Tafel ehrenamtlich leiten, wollten diesen Zustand nicht länger akzeptieren. Zusammen mit den neu in die Region zugewanderten Brüdern Faris und Basel Shehabi entwickelten sie das Projekt „Solve!“ zur Online-Vermittlung von Sachspenden. Seit März 2018 werden sie als Teilnehmende bei „digital.engagiert“ von Amazon und Stifterverband unterstützt; die Initiative fördert die Digitalisierung solcher gemeinnützigen Projekte.

„Das ist freiwillige Arbeit, die muss Spaß machen. Das ist der einzige Weg, Leute zu gewinnen“, ist sich Fladung sicher. Gerade bei komplexeren Prozessen kostete der bürokratische Aufwand die Engagierten der Tafel viel Zeit, wie etwa der Vermittlung von Sachspenden – zum Beispiel Möbel – oder die Prüfung, ob die Empfänger auch berechtigt sind, die Spenden zu empfangen.

Doch die Mission der Tafel zielt nicht nur auf materielle Güter für Bedürftige ab. Sie ist auch ein Begegnungszentrum und schreibt Inklusion in ihrer tagtäglichen Arbeit groß. „Wir sind Anlaufstelle für problematische Situationen, die es sonst in unserer Gesellschaft nicht mehr gibt“, so Ritz. „Es hat sich eben so ergeben dass die Leute nicht nur Lebensmittel brauchen, sondern mit allen möglichen Problematiken hier anlaufen.“ Den Engagierten der Tafel sind dabei auch interkulturelle Begegnungen wichtig. So ging der Verein aktiv auf Geflüchtete in der Umgebung zu, viele von ihnen engagieren sich nun selbst bei der Tafel.

„Wir arbeiten einfach mit den Menschen, die kommen, und haben den Geflüchteten auch sehr schnell ermöglicht einzuspringen und mitzuarbeiten“, erklärt Fladung. „Sie arbeiten mittlerweile mit uns und sind eine große Stütze in unserer Arbeit.“ Mit diesem neuen
Typus Engagierter kam so als positiver Nebeneffekt auch das Digitale in den Verein: denn einige Geflüchtete brachten IT-Kompetenz und -Affinität mit. So ist die Idee, Sachspenden über eine Online-Plattform automatisiert und passgenau zu vermitteln entstanden, um den Verwaltungsaufwand möglichst gering zu halten, sodass die Ehrenamtlichen mehr Zeit haben, sich mit den Menschen zu beschäftigen.
Durch die Teilnahme bei „digital.engagiert“ betrachtet die Tafel Digitalisierung im Verein jetzt ganzheitlicher. Ritz sieht eine der größten Chancen im Bürokratieabbau, und merkt an, dass es sich bei der Tafel um Freiwillige, nicht um EDV-ExpertInnen handelt. „Mit den Geflüchteten, das brachte auch Verunsicherung“, ergänzt Fladung, aber über Begegnung klärt sich das. „Man merkt einfach auch, dass so ein Generationenwechsel gut tut und einen Verein belebt. Mit der Digitalisierung ist das ähnlich. Ich finde es wichtig, die Möglichkeiten älterer Menschen zu erweitern, die man langsam an digitale Tools heranführt, ihnen Sorge davor zu nehmen abgehängt zu sein, nicht mehr mitzukommen in diesem neuen Zeitalter.“

Die Tafel Ginsheim-Gustavsburg hat sich für Geflüchtete und digitale Ansätze geöffnet. Ihre offenen Strukturen erlaubten Geflüchteten, Digitalisierung des Vereinslebens anzustoßen. Als eine Art „Schule der Digitalisierung“ werden auch ältere Menschen vor Ort langsam mit dem Thema vertraut gemacht. 50 Ehrenamtliche halten den Betrieb an drei Ausgabeorten und vier Wochentagen nun dank effizienterer Prozesse aufrecht. Das Ergebnis schlägt sich nicht nur in Arbeitserleichterungen für Engagierte, sondern auch in einer Kompetenz- und Horizonterweiterung für alle Beteiligten nieder. So kann die Digitalisierung auch ein ganz analoges Ziel haben, nämlich einen gesellschaftlichen Begegnungsort am Leben zu halten.

Die Autoren der Studie:
Patrick Gilroy, Holger Krimmer, Jana Priemer, Olga Kononykhina,
Maria Pereira Robledo, Falk Stratenwerth-Neunzig

https://www.stifterverband.org/digital-engagiert

https://www.tafel-gigu.de/