Putins Logik hinter dem Einmarsch in die Ukraine

Ukrainische Flagge Pixabay/jorono 1037 Bilder

Ein Kommentar von Manuel Mueller-Frank, Associate Professor of Economics an der IESE Business School


Das Narrativ des Kremls zum Einmarsch in die Ukraine benennt die NATO-Osterweiterung und die existenzielle Bedrohung, die sie für die russische Nation darstelle. Im Dezember wurden den USA Forderungen übermittelt: keine NATO-Erweiterung und Abzug aller NATO-Truppen und -Waffen, die nach 1997 Aufnahme in das Bündnis fanden. Da weder die NATO noch die Ukraine auf diese Forderungen eingingen, wäre eine passive Reaktion Russlands „absolut unverantwortlich“ gewesen, wie Putin es in seiner Ansprache zur Ankündigung der Invasion ausdrückte. In der Tat, in seinen Augen ging es um Leben und Tod. Die Invasion sei demnach eine gerechtfertigte Reaktion auf eine äußere Bedrohung des russischen Staates und der russischen Nation – womit Putin die Motivationen des Kremls und des Volkes stillschweigend in Einklang brachte.

Unklar bleibt jedoch, warum eine mögliche Integration der Ukraine in die NATO eine existenzielle Bedrohung für Russland darstellen sollte. Immerhin kontrolliert Russland wohl mehr als die Hälfte des weltweiten Atomwaffenarsenals. Jedes Szenario eines militärischen Einmarsches von NATO-Streitkräften in Russland könnte umgehend mit der nuklearen Vernichtung der Angreifer und der ganzen Welt beantwortet werden, ein solcher Einmarsch wäre aussichtslos und unnütz.

Manuel Mueller-Frank, Associate Professor of Economics an der weltweit renommierten IESE Business School

Daher ist es schwierig, die Invasion mit einer externen militärischen Bedrohung zu begründen. Stattdessen könnte das NATO-Narrativ den wahren Grund für die Invasion vernebeln, nämlich vorbereitet zu sein für eine potenzielle künftige Bedrohung von innen – nicht der russischen Nation, sondern des herrschenden Regimes. Die künftige Bedrohung, über die sich Putin wohl Sorgen macht, ist die ukrainische EU-Mitgliedschaft und das Übergreifen solcher Gedankenspiele auf Russland.

Ein notwendiges Kriterium für die EU-Mitgliedschaft ist eine stabile Demokratie. Eine stabile demokratische Ukraine, gepaart mit den Vorteilen eines Beitritts zum EU-Binnenmarkt, würde mit ziemlicher Sicherheit zu einem erheblichen Wirtschaftswachstum führen – zumindest im Vergleich zur russischen Wirtschaftsleistung. Die russischen Nachbarn Finnland, Estland und Lettland sind zwar EU-Mitglieder, die beiden letztgenannten sogar NATO-Mitglieder, doch was die Auswirkungen auf Russland betrifft, besteht ein wesentlicher Unterschied zwischen ihrem Fall und dem der Ukraine. Nämlich die kulturellen und sozialen Bindungen der Ukraine an Russland.

So benötigen beispielsweise Esten und Letten ein Visum für die Einreise nach Russland, während dies für Ukrainer nicht gilt. Estland und Lettland haben ihre eigene Sprache. Die Ukrainer ebenso, aber Russisch ist in der Ukraine weit verbreitet (in einer Gallup-Umfrage von 2007 zogen es 83 % der ukrainischen Befragten vor, die Umfrage auf Russisch durchzuführen. Die kulturellen und sozialen Bindungen zwischen Russland und der Ukraine haben zweierlei Auswirkungen. Erstens ist unter Russen die Überzeugung, eine autoritäre Führung sorge für Stabilität und Ordnung, weit verbreitet. Die von Putin angenommene Einheit von Russen und Ukrainern impliziert die Notwendigkeit einer ähnlichen Form der Staatsführung.

Eine stabile Demokratie in der Ukraine würde die positive Haltung vieler Russen gegenüber eher autoritären Regierungsformen untergraben. Zweitens ließe sich eine wirtschaftlich florierende ukrainische Demokratie nicht vor der russischen Bevölkerung verbergen. Die Haltung des russischen Regimes ist eine anspruchsvollere Version des fehlerhaften amerikanischen Narrativs, mittels dessen man die engere wirtschaftliche Verflechtung mit China während des größten Teils der letzten 40 Jahre begründete.

Des Narrativs, wirtschaftlicher Wohlstand führe China zur Demokratisierung. Eine ausgefeiltere Version besagt, dass eine enge soziale Anbindung an eine wirtschaftlich wachsende Demokratie zu demokratischem Druck auf das autoritäre Regime führt, dem es nicht gelingt, Wirtschaftswachstum für die Bevölkerung zu generieren. Putins persönliche Erfahrung stützt diese Überzeugung. Als junger KGB-Agent wurde er in Berlin, wo ein Volk durch zwei Systeme geteilt wurde, Zeuge der Auflösung der DDR. Das demokratische, wohlhabendere System, setzte sich durch. Die deutsche Wiedervereinigung verbesserte den Lebensstandard der Ostdeutschen drastisch, wohingegen die DDR-Führung Macht, Privilegien und in einigen Fällen auch ihre Freiheit verlor. Eine Lektion, die Wladimir Putin nicht vergessen hat.

Ein paar Wochen nach dem Einmarsch stellte sich heraus, dass die Invasion ganz anders verlief, als Putin sich das erwartet hatte. Anstatt einer potenziellen künftigen Bedrohung für sein Regime vorzusorgen, ist das Regime wahrscheinlich intern schwächer als vor der Invasion. Was also sollten wir vom Kreml nun erwarten? Projiziert man die jüngsten Ereignisse in die Zukunft, zeichnet sich ein sehr düsteres Bild ab. Das russische Militär legt bei seinem Versuch, die Ukraine zu unterwerfen, äußerste Brutalität gegenüber der ukrainischen Zivilbevölkerung an den Tag.

Diese Behandlung des ukrainischen Volkes ist eine Warnung vor dem, was dem russischen Volk bevorstehen könnte, wenn es Putins Machterhalt bedroht. Denn für Putin sind Ukrainer und Russen eins.