Der Medizinsektor hat in Deutschland einen hohen Anteil am Klimawandel

Die Reduktion von Einmalartikeln wäre eine relativ einfache Maßnahme, um den Work Flow in Klinik und Praxis umweltfreundlicher zu gestalten. Foto: Adobe Stock

In diesem Jahr fiel der Earth Overshooot Day für Deutschland auf den 4. Mai 2022. Seit diesem Tag verbraucht die Bundesrepublik mehr natürliche Ressourcen als bis zum 31. Dezember wieder nachwachsen könnten. Neben bekannten Branchen wie der Automobilindustrie und der Landwirtschaft trägt der Medizinsektor überproportional zum Klimawandel bei – weltweit ist er verantwortlich für etwa 6 Prozent der Treibhausgasemissionen. Für uns Menschen ist der Klimawandel in vielerlei Hinsicht  gesundheitsschädigend. So ist für die Frauenheilkunde längst ein Zusammenhang zwischenmütterlicher Feinstaubbelastung und einem assoziierten Frühgeburtsrisiko belegt.

Hinzu kommen vor allem auch Krebsleiden, die durch Luftverschmutzung mit verursacht werden können. Einen drastischen Anstieg gibt es darüber hinaus bei der Zahl von Hitzetoten. Allein im Jahr 2018 erlagen laut Deutschem Ärzteblatt über 20.000 Menschen in Deutschland der Hitze. Experten fordern deshalb dringlich, dass Klimaschutz zeitnah in die Bemühungen für Patientensicherheit einbezogen werden sollte.

Die internationale Ärzteschaft hat sich bereits 2019 in einer Resolution zum Klimanotstand bekannt. Darin fordern sie die nationalen Regierungen auf, bis 2030 CO2-Neutralität zu erreichen, um lebensbedrohliche Gesundheitsfolgen der Klimakrise zu minimieren. Die Bundesregierung hat sich mit dem Klimaschutzgesetz zum Ziel gesetzt, Deutschland bis 2045 klimaneutral zu gestalten. Der Expertenrat für Klimafragen der Bundesregierung wird erstmals ab 2022 alle zwei Jahre ein Gutachten über die bisher erreichten Ziele, Maßnahmen und Trends vorlegen. Werden die Vorgaben nicht eingehalten, will die Bundesregierung nachsteuern.

Abgesehen von nationalen und internationalen Klimaschutzrichtlinien gibt es lokal viele Möglichkeiten, in einem Klinikum oder einer Praxis selbst aktiv zu werden. „Aus unserer ganz praktischen Arbeitserfahrung einer Frauenklinik ist es essentiell, dass gemeinsam kreativ und niederschwellig gedacht wird. So können auch ohne unmittelbare große finanzielle Investitionen Sofortmaßnahmen für einen aktiven Klimaschutz ergriffen werden, vorausgesetzt, die Klinikleitung zieht hier mit.“ Prof. Dr. Annette Hanseburg (Universitätsmedizin Mainz) Direktorin der Klinik und Poliklinik für Geburtshilfe und Frauengesundheit und Mitglied im DGGG-Vorstand

CO2Reduktion: Maßnahmen zur Sofortimplementierung

Während die energetische Sanierung von Gebäuden großer Investitionen bedarf, gibt es Maßnahmen, die kurzfristig und einfach umgesetzt werden können. Hierzu zählen:

1 Einführung der strukturellen, personellen und fachlichen Voraussetzungen für
Etablierung eines Nachhaltigkeitskonzepts
2 Einstellung eines/einer Klimamanager
3 Erstellung von „Nachhaltigkeits-SOPs“
4 Information und Schulung von Mitarbeitern für Aspekte der Nachhaltigkeit
5 Aufnahme des Ziels „Klimaneutralität“ in Unternehmensziele
6 jährliche Bestimmung des CO2 Fußabdrucks zur Erfolgskontrolle
7 Gebäudemanagement: Nutzung des energetischen Sparpotentials (LED Leuchten,
Bewegungsmelder, nächtliche Reduktion von Klimaanlagen z.B. in OPs,
Überarbeitung von Lüftungs- und Heizkonzept)
8 Reduktion von Einmalartikeln
9 Konsequentes und funktionierendes Recycling-Konzept in allen Bereichen
10 Austausch klimabelastender Narkosegase, Scavenging- und Recycling-Systeme
für Narkosegase
11 Verwendung erneuerbarer Energien, E-Transporter für Transportdienste
12 Jobticket, abschließbare Fahrradgaragen, Ladesäule für E-Bikes und E-Autos
13 Umsetzung der Standards der Deutschen Gesellschaft für Ernährung (DGE)
14 Papierloses Krankenhaus (digitale Akte), papierloses Semester, umweltfreundliche
Suchmaschinen
15 Nutzen der Schwarmintelligenz durch Partizipation (Ideenwettbewerbe,
Veröffentlichung von Fortschritten in Richtung Nachhaltigkeit…)

Dass die routinierte flächendeckende Umsetzung selbst einfachster Maßnahmen wie das  Fensterschließen nach Dienstende kein Automatismus ist, wissen engagierte Medizinern, wie etwa Jun.-Prof. Martin Weiss vom Department für Frauengesundheit an der Universität Tübingen. Er betont, dass der effizienten Koordination von Maßnahmen zwischen ÄrztInnen eine wesentliche Rolle beim gelebten Klimaschutz zukommt. So könnten etwa unnötig wiederholte Tests und überflüssiger ressourcenraubender Medikamentenverbrauch vermieden werden.

Zudem könnten klimabelastende halogenierte Narkosegase wie Stickstoffoxid und Desfluran unter Umständen durch intravenöse Betäubungsmittel ersetzt werden, die nur einen Bruchteil an Emissionen verursachen. Die Umwelt schonen würden außerdem wiederaufbereitete Medizinprodukte, die jedoch gerade im ambulanten Bereich so gut wie verdrängt worden seien. Dieser Effekt habe sich seit der COVID-19-Pandemie verstärkt. Grundsätzlich könne, das betonen die beiden VertreterInnen der Deutschen Gesellschaft für Gynäkologie und Geburtshilfe (DGGG e.V.), jede Einrichtung im Gesundheitssektor ihren ökologischen Fußabdruck binnen kurzer Zeit mittels Dienstleister bestimmen lassen.

„Wenn wohlhabende Länder die verschwenderischen und kohlenstoffintensiven
Praktiken jetzt reduzieren, haben wir eine echte Chance, einer durch den Medizinsektor
mitverursachten Umweltkatastrophe zu entgehen.“ Jun.-Prof. Dr. Martin Weiß (Tübingen)
Sprecher des Jungen Forums in der DGGG e.V. und Mitglied im DGGG-Vorstand

Mit Blick auf eine systematische klimafreundliche Sanierungskampagne der deutschen Krankenhauslandschaft unterstützt der DGGG-Vorstand den Vorschlag von Gesundheitsökonomen wie Prof. Boris Augurzky, Träger des Zukunftspreises vom Verband der Leitenden Krankenhausärzte Deutschlands e.V. (VLK).

„Die Idee, einen ‚KrankenhausKlimafond‘ aufzulegen, der von Bund und Ländern gefüllt wird, ist sinnvoll. Denn auch aus unserer Sicht haben Krankenhäuser in Deutschland – ob kommunal oder privatwirtschaftlich geführt – flächendeckend nicht die Kraft, um im ausreichenden Maße in Klimaschutz zu investieren“, betont Prof. Anton J. Scharl, DGGG-Präsident. Der Krieg in der Ukraine und die damit einhergehende Verknappung der Gasversorgung dürften den Druck auch auf Kliniken und Praxen erhöhen, ressourcenschonender zu agieren und kreativ nach neuen Wegen zur Reduktion des jeweiligen CO2-Abdrucks zu suchen.