Mitte Juli jährt sich zum ersten Mal das katastrophale „Ahrtal-Hochwasser“, das in Westdeutschland mehr als 180 Menschen das Leben kostete sowie Schäden in Höhe von 29,2 Milliarden Euro verursachte. Wie ein kluger Hochwasserschutz der Zukunft aussehen sollte und welche Vorteile insbesondere „naturbasierte Lösungen“ bieten, haben deutsche Wissenschaftler*innen unter Federführung der Senckenberg Gesellschaft für Naturforschung (SGN) in einer Handlungsempfehlung zusammengefasst. Der „Policy Brief“ rät zu einem kombinierten Hochwasserschutz unter Einbeziehung der von der EU geforderten Erhöhung der Schutzgebietsflächen von aktuell 10 auf 30 Prozent.
Bei einem Wasserstand von 5,75 Metern brach am 14. Juli 2021 die Datenübermittlung des Pegels Altenahr an das zuständige Landesamt ab – Wassermassen hatten die Messstation mit sich gerissen. Modellierungen zeigen, dass das Ahrwasser einen Pegelstand von bis zu sieben Metern erreichte – im Normalfall liegt er in diesem Flussabschnitt unter einem Meter.
„Hochwasser sind grundsätzlich natürliche Ereignisse, die in unseren Flusslandschaften über Jahrtausende eine einzigartige Biodiversität sowie widerstandsfähige Ökosysteme mit mannigfaltigen Leistungen geschaffen haben“, erklärt Senckenberg-Wissenschaftler Dr. Phillip Haubrock und fährt fort: „In den vergangenen Jahrzehnten sind die Frequenz, die Höhe und das Risiko von Hochwassern durch massive Eingriffe des Menschen wie Flussbegradigung, Abtrennung und Bebauung der Auen, Entwaldung, Bodenversiegelung und Drainage deutlich gestiegen. Mit dem Klimawandel verstärkt sich die Hochwassergefahr zusätzlich. Die Katastrophe im letzten Sommer hat uns dies unverkennbar vor Augen geführt.“
Überschwemmungen zählen weltweit zu den häufigsten und größten aller Naturgefahren: Zwischen 1994 und 2013 waren 43 Prozent aller registrierten Naturkatastrophen Hochwasser und betrafen fast 2,5 Milliarden Menschen. Im 20. Jahrhundert forderten Überschwemmungen von Flüssen etwa 7 Millionen Todesopfer. Weltweit wird der jährliche Schaden auf 104 Milliarden US-Dollar geschätzt. „Diese Zahlen zeigen die Grenzen eines vorwiegend technisch orientierten und dabei häufig nicht nachhaltigen Hochwasserschutzes, denn dieser verlagert das Risiko nur örtlich und schadet der Umwelt“, sagt Mitautorin Prof. Dr. Sonja Jähnig vom Leibniz-Institut für Gewässerökologie und Binnenfischerei (IGB). Dringend notwendig sei daher ein umfassendes und integriertes Risikomanagement von Land und Wasser, das den Flüssen und ihren Auen mehr Raum gibt, die natürliche Speicherkapazität der Landschaft erhöht und damit auch naturnahe Lebensräume für mehr Artenvielfalt schafft.
Als Lösung schlägt das Forscher-Team von Senckenberg, dem IGB, dem Helmholtz-Zentrum Potsdam Deutsches GeoForschungsZentrum GFZ und der Universitäten Duisburg-Essen, Kiel, Frankfurt, Osnabrück sowie der Technischen Hochschule Aachen in einem gemeinsamen „Policy Brief“ einen kombinierten Hochwasserschutz vor. Anstatt rein auf bauliche Maßnahmen wie Deiche oder künstliche Rückhaltebecken zu setzen, sollten verstärkt „naturbasierte Lösungen“ (NbS) zum Einsatz kommen, indem zum Beispiel Flüsse, Auen, Feuchtgebiete und Wälder renaturiert oder Flächen entsiegelt werden. Solche naturbasierten Lösungen erhöhen den Wasserrückhalt in der Landschaft und somit auch die Resilienz gegenüber Hochwasserereignissen.
Ein wesentliches Ziel sei es, einen möglichst großen Anteil des Niederschlages am Ort des Auftretens versickern zu lassen oder dort zurückzuhalten. „Eine Erhöhung des Waldanteils kann zum Beispiel helfen, wenigstens einige Hochwasser abzumildern“, sagt Prof. Dr. Dörthe Tetzlaff vom IGB, die ebenfalls am „Policy Brief“ mitgewirkt hat. Neben dem Einsatz naturbasierter Lösungen fordern die Wissenschaftler*innen auch eine verstärkte Ausweisung von Überschwemmungsflächen bei der Erhöhung der Schutzgebietsfläche von derzeitigen 10 auf 30 Prozent, wie sie in der EU-Biodiversitätsstrategie für 2030 vorgesehen ist. Dies fördere die biologische Vielfalt und schütze zugleich die Menschen.
„Durch den globalen Klimawandel werden sich die Häufigkeit und Intensität von Starkniederschlägen weiter verstärken – die Folge sind weitere Überschwemmungen und Katastrophen. Wir brauchen ein grundlegendes Umdenken im Hochwasserschutz, in welchem naturbasierte Lösungen ein essenzielles Segment darstellen. Ein kombinierter Hochwasserschutz, der sowohl technische als auch naturbasierte Maßnahmen beinhaltet, befördert Ökosystemleistungen und die einzigartige biologische Vielfalt von Flusslandschaften und verbindet somit den Schutz von Mensch und Natur! Die Renaturierung von Flüssen und ihren angrenzenden Auenflächen, die Wiedervernässung von Mooren und die Umgestaltung des deutschen Forsts in einen vielfältigen Wald müssen mit Nachdruck vorangetrieben werden. Wir müssen mit und dürfen nicht gegen die Natur handeln“, schließt Senckenberg-Generaldirektor und Gewässerökologe Prof. Dr. Klement Tockner.