Wer den jetzt dringend nötigen weltweiten Kohleausstieg voranbringen will, muss die Sorgen der betroffenen Regionen um ihre Zukunftsfähigkeit ernst nehmen. Denn neue Kohlekraftwerke, so klimaschädlich sie auch sind, waren in der Vergangenheit wirtschaftlich lukrativ. Wie groß der Effekt ist, über welche Kanäle er erzeugt wird und was das für eine realistisch angelegte Klimapolitik bedeutet, zeigt jetzt eine neue Studie des Berliner Klimaforschungsinstituts MCC (Mercator Research Institute on Global Commons and Climate Change).
Für die Analyse kombinierte das Forschungsteam umfangreiche empirische Daten zu Kraftwerksprojekten mit denen zur regionalen Wirtschaftsentwicklung. Quellen waren die Datenbank WEPP des US-Finanzdienstleisters S&P Global, die weltweit 65 Prozent der gesamten zwischen 1960 und 2015 ans Netz gegangenen Stromerzeugung erfasst, sowie ein eigens am MCC entwickelter, bereits für eine frühere Klimaschäden-Studie verwendeter Regionaldatensatz für über 1400 geografische Einheiten in 77 Ländern.
Mit dem Verfahren der Ereignisstudie, durch Betrachten der echten Entwicklung vor und nach dem Bau eines Kraftwerks, bezifferte man dann für unterschiedliche Formen der Stromerzeugung die Wirkung auf die regionale Wirtschaft. Erstmals wurde somit dieser Zusammenhang weltweit, und nicht nur für Einzelfälle, erforscht.
„In der Durchschnittsbetrachtung zeigt sich vier Jahre nach der Installation von 100 Megawatt neuer Kohlestrom-Kapazität in einer Region ein Extra-Wohlstandsschub von 0,2 Prozent höherem Pro-Kopf-Einkommen“, berichtet Lorenzo Montrone, Doktorand in der MCC-Arbeitsgruppe Klimaschutz und Entwicklung und Leitautor der Studie. „Wir finden ähnliche Effekte für Wasserkraftwerke, aber nicht für die anderen untersuchten Energiequellen Gas, Kernkraft und Erneuerbare. Das hilft zu verstehen, warum Regierungen in der Vergangenheit so stark auf Kohle gesetzt haben – und was bei einer Politik des Kohleausstiegs wahrscheinlich an begleitender regionaler Wirtschaftsförderung nötig ist.“
Der Wachstumseffekt der Kohleverstromung ist plausibel nicht nur durch die Förderung des Brennstoffs, sondern zum Beispiel auch durch neue Eisenbahnlinien, Straßen oder Häfen, mit deren Hilfe die Kohle ins Kraftwerk gelangt. Solche Infrastruktur kann auch Auslöser für weitere Industrialisierung sein. Zudem ist für energieintensive Branchen die besondere Verlässlichkeit des Kohlestroms ein mögliches Argument, sich in der Nähe neuer Kraftwerke anzusiedeln.
Für die durchschnittliche in der Studie betrachtete Region, mit zwei Millionen Einwohnern und einem jährlichen Pro-Kopf-Einkommen von knapp 10.000 Dollar, beziffert sich der Wohlstandsgewinn auf 153 Millionen Dollar. Die lokalen Schäden für Umwelt und Gesundheit könnten durchaus geringer sein, und die Politik vor Ort schaue womöglich eher auf die lokale Kosten-Nutzen-Relation als auf das Weltklima, heißt es warnend im Fazit der Studie.
„Kohle ist auch in der jüngsten Wirtschaftsgeschichte weltweit ein Motor für Industrialisierung und Arbeitsplätze gewesen – und der Nutzen ging über die reine Bereitstellung von Strom weit hinaus“, sagt Jan Steckel, Arbeitsgruppenleiter am MCC und einer der Co-Autoren der Studie. „Diese aus Sicht vieler Regierungen positiven Leistungsversprechen müssen wir bei der Gestaltung von Klimapolitik berücksichtigen. Die Industrieländer müssen dem globalen Süden helfen, nachhaltige Industrialisierung und Strukturwandel hinzubekommen und auch ohne Kohle zu Wohlstand zu gelangen.“