Noch nie gehört vom Kürzel OECMs? Dann wird’s höchste Zeit. Dahinter steckt ein neues Instrument zum Erhalt der Biodiversität an Land und im Meer. Wissenschafler:innen aus der U Bremen Research Alliance wollen helfen, diese alternativen Schutzgebiete zu etablieren – zum Beispiel im Korallendreieck vor Indonesien.
Die Haie und Rochenmantas von Raja Ampat sind eine Attraktion. Taucherinnen und Taucher aus der ganzen Welt pilgern auf das Archipel im östlichen Indonesien, um sie in ihrem natürlichen Habitat zu erleben. Gemeinsam mit der örtlichen Bevölkerung hat ein Touristenressort ein Schutzgebiet für die bedrohten Tiere etabliert; sie zu jagen ist verboten. Für den lokalen Tourismus sind die Haie eine wichtige Einkommensquelle geworden, gleichzeitig tragen sie zur Gesundheit des Ökosystems und zum Artenreichtum bei.
Oft sind gerade Meeresschutzgebiete nur ein Papiertiger
„Raja Ampat ist ein Beispiel für ein OECM“, erklärt Estradivari, Doktorandin am Leibniz-Zentrum für Marine Tropenforschung (ZMT) und an der Universität Bremen, beides Mitgliedseinrichtungen der U Bremen Research Alliance. Das Kürzel steht für „andere wirksame flächenbezogene Naturschutzmaßnahmen“. Oder auf Englisch: „Other Effective area-based Conservation Measures“. Damit sind Gebiete gemeint, die nicht unter Naturschutz stehen, aber von indigenen Völkern, lokalen Gemeinschaften oder auch der Privatwirtschaft verwaltet und nachhaltig bewirtschaftet werden. Oftmals geschieht dies im Einklang mit jahrhundertealten Traditionen und Werten.
Die lokale Bevölkerung ist viel zu selten in die Schutzbemühungen einbezogen
Der weltweite Verlust an Biodiversität ist enorm. Pro Tag verschwinden nach Schätzungen von Wissenschaftler bis zu 150 Arten. Laut der internationalen Roten Liste gefährdeter Arten sind mehr als 40.000 Spezies akut vom Aussterben bedroht. Hierzu gehören 41 Prozent der Amphibien, 37 Prozent der Haie und Rochen, 33 Prozent der Korallen, 26 Prozent der Säugetiere und 13 Prozent der Vögel.
Um die Vielfalt der Ökosysteme, ihre genetische Substanz und den Reichtum an Arten bei Tieren, Pflanzen, Pilzen und Mikroorganismen zu erhalten, setzten Regierungen bislang vorwiegend auf die Einrichtung von Naturschutzgebieten. „Sie reichen aber nicht aus, um den Verlust aufzuhalten“, konstatiert Dr. Sebastian Ferse, Riffökologe am ZMT. „Oft sind gerade Meeresschutzgebiete nur ein Papiertiger. Die lokale Bevölkerung ist viel zu selten in die Schutzbemühungen einbezogen.“
Und es gibt viel zu wenige Schutzgebiete, zudem sind die vorhandenen meist zu weit voneinander entfernt. Ein Austausch von genetischem Material ist so kaum möglich. „Das ist ein Riesenproblem“, meint Ferse. Denn für die Evolution braucht es Austausch. Korallenlarven zum Beispiel müssen sich in der Regel innerhalb einer Woche auf dem Meeresboden ansiedeln, sonst sterben sie ab. Als Ergänzung zu den Naturschutzgebieten hat die Biodiversitätskonferenz der Vereinten Nationen die OECMs als zusätzliches Schutzkonzept ins Gespräch gebracht. Bis zum Jahr 2030, so die ambitionierte Forderung, sollten mindestens 30 Prozent der Land- und Meeresfläche unter Schutz gestellt werden.
OECMs unterscheiden sich von Naturschutzgebieten unter anderem dadurch, dass der Erhalt der Natur nicht als oberstes Ziel definiert, sondern als Nebeneffekt der Maßnahmen erreicht wird. Welche Gebiete aber kommen dafür infrage? Wie misst man ihre ökologischen Effekte? Bislang fehlte es an Mechanismen zur Identifizierung, Anerkennung und Meldung von OECMs. Ein internationales Team von Forschenden unter Beteiligung der Umweltschutzorganisation WWF, des ZMT und der Universität Bremen hat diese nun erstmals entwickelt, und zwar am Beispiel der Küstengewässer Indonesiens. An der Erstellung der Studie waren außerdem Mitarbeitende verschiedener indonesischer Institutionen und des Meeresministeriums beteiligt.
Die Region mit ihren 17.000 Inseln ist eines der Gebiete mit der größten biologischen Vielfalt im Meer überhaupt. Dies ist den Korallen zu verdanken. Das Land liegt im Korallendreieck, einer Fläche etwa halb so groß wie die USA, die sich über Indonesien, Malaysia, die Philippinen und Papua-Neuguinea erstreckt. „Korallenriffe sind nicht nur schön und faszinierend wegen ihrer Vielfalt“, schwärmt Sebastian Ferse. „Mit geschätzt bis zu einer Million Arten sind sie der artenreichste Lebensraum unter Wasser. Sie sind enorm wichtig für den Stoffkreislauf im Meer, auch für kommerzielle Aktivitäten wie Fischerei und Tourismus. Zudem schützen sie die Küsten vor der Wellenenergie.“
Und sie sind bedroht, massiv: durch die Fischerei, die Meereserwärmung und -versauerung, durch Nährstoffeinträge und Abwässer. Ihr nachhaltiger Schutz ist deshalb umso wichtiger. „In unserer Studie haben wir mehr als 390 Gebiete identifiziert, die als marine OECMs infrage kommen“, erzählt die Meeresökologin Estradivari. Schutzzonen für Haie wie auf Raja Ampat sind darunter, in denen naturschonender Tourismus betrieben wird, vor allem aber Regionen, in denen indigene Gemeinschaften nachhaltig fischen und gemeinsam Ressourcen verwalten – nach traditioneller Art, wie in manchen Gebieten der Molukken, wo diese Traditionen als „Sasi” bekannt sind.
Die Untersuchung ist ein Ergebnis eines internationalen Forschungsprojekts, an dem ein weiterer Bremer maßgeblich beteiligt ist: Prof. Dr. Christian Wild, Leiter der Abteilung Marine Ökologie an der Universität Bremen. „4D-REEF“, so der Projektname, untersucht die Rolle und das Potenzial von Riffen in speziellen Lebensräumen, die immer mehr Raum einnehmen: trübe Küstengewässer. In diese Gebiete strömen die ungefilterten Abwässer der Millionenstädte ebenso hinein wie die Dünger der intensiven Landwirtschaft. „In ihnen sieht man oft die Hand vor Augen nicht“, sagt Wild.
An vielen Standorten führt dies zum Absterben der Steinkorallen
Riffe verkommen zu Geröllwüsten, die Biodiversität geht verloren. An anderen aber haben sich die Korallen an die extremen Umweltbedingungen angepasst, sich als robust und widerstandsfähig erwiesen. „Das ist ganz erstaunlich“, meint Wild. „Wir wollen verstehen, warum das so ist und was wir daraus für den Erhalt der Korallen insgesamt lernen können. Unser Lehrbuchwissen bringt uns hier nicht weiter.“
Fadenalgen spielen in diesem Prozess eine Rolle. Ihre Bedeutung untersucht Estradivari in ihrer Doktorarbeit, die von Christian Wild und Sebastian Ferse betreut wird. Denn 4D-REEF ist auch ein internationales Ausbildungsprogramm. Fünf Universitäten, zwei Naturkundemuseen, drei Forschungseinrichtungen, mehrere Unternehmen sowie die Umweltschutzorganisation WWF zählen zu den Partnern. Fadenalgen und Korallen sind Konkurrenten um Ansiedlungsflächen auf dem Meeresboden. In einem nährstoffreichen, trüben Umfeld gedeihen die Algen besonders gut. Wie aber die Interaktion zwischen Alge und Koralle verläuft, welchen Einfluss die Lichtverfügbarkeit und die Nährstoffkonzentration auf den Wettbewerb haben, ist nicht bekannt. Auch hier erhoffen sich die Forschenden neue Erkenntnisse.
Bremen bietet in der Korallenforschung herausragende Möglichkeiten
Die Kooperation zwischen der Abteilung Marine Ökologie der Universität Bremen und dem ZMT ist eng. „Wir ergänzen uns in unseren Expertisen ganz hervorragend“, sagt der Biologe Christian Wild. „Mit seinen Partnerinstitutionen in der U Bremen Research Alliance bietet Bremen in der Korallen- und Meeresforschung herausragende Möglichkeiten. Da kann das Land schon stolz darauf sein.“
Wild befürwortet die Einrichtung von OECMs, gerade auch an trüben Riffen. „Wir sind in einer verzweifelten Situation“, weiß der Wissenschaftler. „Unseren Korallenriffen geht es sehr, sehr schlecht – vermutlich so schlecht wie noch nie in der Erdgeschichte.“ Die klassische Forschung und auch die Politik konzentrierten sich zu sehr auf die „schönen“ Riffe in azurblauen Gewässern und vernachlässigten die trüben Lebensräume. „Wir müssen neu denken und handeln“, so Wild. „Die OECMs können hier eine Lücke füllen.“ Aber auch andere Schutzinstrumente, die die Nutzung durch den Menschen einbeziehen, etwa Biosphärenreservate, seien ein nicht minder wichtiges Instrument zum Erhalt der Biodiversität.
Die Chancen, dass marine OECMs in Indonesien tatsächlich als Schutzgebiete ausgewiesen werden, stehen nicht schlecht. „Mit unserer Forschung wollen wir die Regierung unterstützen und sie ermutigen, diesen Schritt zu gehen“, betont Estradivari, die lange in Indonesien für den WWF gearbeitet hat. Zwar sind bislang weniger als acht Prozent der Küstengewässer in Indonesien als Meeresschutzgebiete ausgewiesen. Doch die Regierung überarbeitet derzeit bereits ihr Schutzkonzept.