Die ukrainische Soziologin Dr. Taisiia Ratushna forscht mit einem Stipendium des Universitätsbunds am Lehrstuhl von Professorin Dr. Pia S. Schober an der Universität Tübingen.
Vor Kriegsausbruch arbeitete sie seit 2010 am Institut für Soziologie an der Nationalen Universität Saporischschja zu Kommunikationsprozessen, Digitalisierung und den sozialen Medien.
Wo waren Sie tätig, bevor Sie nach Tübingen kamen?
Ich habe als Associate Professor an der Nationalen Universität Saporischschja im Fachbereich Soziologie gelehrt und geforscht, Praktika für Studierende der Soziologie organisiert und universitätsweite Studien zur Qualität der Lehre durchgeführt. Außerdem habe ich häufig Nichtregierungsorganisationen bei der Durchführung soziologischer Studien beraten.
Was ist der Schwerpunkt Ihrer Forschung?
Aktuell befasse ich mich mit dem Konsum von Medien und dem Umgang mit Informationen aus dem Internet. Ich untersuche, wie bestimmte Gruppen – derzeit liegt mein Fokus auf Lehrenden an Schulen – Medieninhalte überprüfen und mit Fake News umgehen. Da sich das Internet ausschließlich selbst reguliert, es also nahezu unkontrollierbar ist, können Fake News in kürzester Zeit verbreitet werden und schädlichen Einfluss auf die öffentliche Meinung nehmen. In der Ukraine konnte man deutlich beobachten, wie Fake News und russische Propaganda genutzt wurden, um die Meinung der Zivilbevölkerung zu manipulieren. Ein hohes Maß an Medienkompetenz ist daher essentiell. In diesem Zusammenhang ist es wichtig, dass Lehrende und andere pädagogische Kräfte entsprechend ausgebildet werden, um diese Kompetenzen an Lernende weiterzugeben. Es genügt nicht, digitale Technologien bedienen und Inhalte aufnehmen zu können, wir müssen auch in der Lage sein, ihnen kritisch zu begegnen.
Sie mussten Ihr Heimatland sehr kurzfristig verlassen. Zu welchem Zeitpunkt haben Sie sich entschieden, nach Deutschland zu kommen?
In der Tat kam meine Abreise sehr plötzlich. Schon in den ersten Kriegstagen wurde ein Teil der Region Saporischschja von russischen Truppen besetzt. Für meinen Mann und mich stand fest, dass die Sicherheit unserer Tochter an erster Stelle steht. Deswegen habe ich beschlossen, mein Heimatland gemeinsam mit ihr zu verlassen, ich wusste aber nicht, wohin ich gehen sollte. Letzten Endes sind wir nach Deutschland gegangen, da mein Mann hier entfernte Verwandte hat.
Mit welchen Herausforderungen waren Sie konfrontiert?
Neben den körperlichen Strapazen war die größte Herausforderung die völlige Ungewissheit. Die Erkenntnis, dass ich wenig bis nichts in meinem Leben kontrollieren kann. Selbst in Berlin, als wir endlich in Sicherheit waren und eine Pause einlegen konnten, blieb das Gefühl der Hilflosigkeit. Die Nachrichten, die wir aus der Ukraine erhielten, verstärkten dieses Gefühl. Durch Zufall stieß ich auf die Ausschreibung zur Unterstützung geflüchteter Forschender aus der Ukraine an der Universität Tübingen. Ich habe das Antragsformular sofort ausgefüllt – und so kam ich nach Tübingen.
Wie würden Sie die derzeitige Situation in der Ukraine beschreiben?
Es ist schwierig, das in Worte zu fassen. Zum einen, da ich nicht vor Ort bin, und zum anderen, weil es noch immer schwierig ist, zu begreifen, dass sich mein Leben so dramatisch verändert hat und meine Verwandtschaft und befreundete Personen in ständiger Gefahr sind. Ein Teil meiner Heimatregion Saporischschja ist noch immer besetzt. Mehrmals am Tag werden Luftangriffe angekündigt und die umliegenden Ortschaften mit Artilleriefeuer beschossen. Die Hauptstadt Saporischschja hat zwar Tausende Geflüchtete aus Mariupol, Melitopol, Berdjansk und anderen Städten aufgenommen, doch sicher ist es dort nicht.
Welche Art von Unterstützung haben Sie in Deutschland und von der Universität Tübingen erhalten?
Meine Tochter und ich haben hier die Möglichkeit bekommen, uns sicher zu fühlen. Unterstützung haben wir auch von Sozialämtern und Migrationsbehörden erhalten. Ich möchte jedoch vor allem die Unterstützung der Nichtregierungsorganisationen, der ehrenamtlichen und karitativen Organisationen und der Einzelpersonen hervorheben, die den Menschen aus der Ukraine in den ersten Wochen halfen, noch bevor die Ämter einsprangen. Dieses Maß an Solidarität und Hilfe ist beeindruckend, und ich kann der deutschen Bevölkerung für diese Unterstützung und Fürsorge nur danken.
„Die Solidarität der wissenschaftlichen Gemeinschaft ist beeindruckend“
Auch die Solidarität der wissenschaftlichen Gemeinschaft ist beeindruckend. Europäische Universitäten und andere wissenschaftliche Einrichtungen haben Forschenden aus der Ukraine verschiedene Möglichkeiten geboten, um ihre Forschung fortzusetzen. Die Universität Tübingen hat mir die Möglichkeit gegeben, an einen Arbeitsplatz zurückzukehren und mein Forschungsprojekt fortzusetzen. Das ist sowohl aus finanzieller als auch aus psychologischer Sicht sehr wichtig. Die Forschung an der Universität Tübingen hat mir das Gefühl gegeben, wieder in den Alltag zurückkehren und mir neue Ziele setzen zu können. Ich möchte mich sehr herzlich beim Universitätsbund, der Unibund-Gemeinschaft und den Alumni der Universität bedanken. Ihr Engagement hat mir die Möglichkeit gegeben haben, weiterzumachen. Dafür danke ich Ihnen.
Darüber hinaus möchte ich der Wirtschafts- und Sozialwissenschaftlichen Fakultät und dem Fachbereich Soziologie, insbesondere Professorin Dr. Pia S. Schober, sowie den Beschäftigten der Universität – insbesondere Dr. Iryna Shalaginova, Tetyana Tonkoshkur, Amrei Nensel, Svitlana Benz, Kirsten Sonnenschein und vielen anderen – für ihre Unterstützung und Hilfe danken.
Das Gespräch führte Dr. Rebecca Hahn
(Mit freundlicher Genehmigung des NL der Universität Tübingen)