Was in der Großstadt funktioniert, funktioniert an der Peripherie noch lange nicht, sagt Professor Dr. Alexander Boden. Der Wissenschaftler von der Hochschule Bonn-Rhein-Sieg (H-BRS) beschäftigt sich mit seinem Team vom Institut für Verbraucherinformatik (IVI) in mehreren Forschungsprojekten mit dem Thema Mobilität. Er sagt auch: Die Verkehrswende ist nicht nur eine technische Frage, sondern eine Frage des politischen und gesellschaftlichen Willens. Alexander Boden ist seit dem 1. September 2020 Professor am Fachbereich Wirtschaftswissenschaften der Hochschule Bonn-Rhein-Sieg und leitet dort als Ko-Direktor das Institut für Verbraucherinformatik (IVI). Professor Bodens Fachprofil ist durch seinen interdisziplinären Hintergrund geprägt. Er arbeitet an Themen der angewandten Verbraucher- und Sozioinformatik zu empirischen Untersuchungen von Techniknutzung im Arbeits- und Privatumfeld, der Gestaltung und Einführung neuer, durch Nutzerinnen und Nutzer anpassbarer Unterstützungswerkzeuge sowie der Erforschung der Aneignung durch Anwenderinnen und Anwender.
Herr Professor Boden, Sie forschen zur Mobilität der Zukunft. Wie sind Sie denn heute zur Hochschule gekommen?
Ich muss zugeben, dass mein eigenes Mobilitätsverhalten nicht immer vorbildlich ist. Ich bin mit dem Auto gefahren, einem Benziner. Heute habe ich eine Ausrede, denn ich musste eine schwere Umzugskiste und ein Bild transportieren. Grundsätzlich brauche ich mit öffentlichen Verkehrsmitteln aber eine gute Stunde für den Weg zur Arbeit, mit dem Auto nur 20 Minuten. Wenn ich den Wagen nehme, bleibt also mehr Zeit für die Familie. Deswegen habe ich mein Jobticket zuletzt auch nicht mehr so häufig genutzt wie früher.
Im Sommer wurde mit dem 9-Euro-Ticket für den Umstieg auf Bus und Bahn geworben. Nach Branchenangaben wurden rund 52 Millionen dieser Fahrscheine verkauft. Hat die Aktion die Mobilitätswende vorangebracht?
Ja und nein. Studien haben das Projekt durchaus unterschiedlich bewertet. Gerade neuere Ergebnisse weisen aber auf einen sehr positiven Effekt hin. Auf der einen Seite lautete die Kritik, dass es eigentlich nur zu zusätzlicher Mobilität geführt habe. Denn jetzt konnte man billig irgendwohin fahren, die Autobahnen waren aber gefühlt trotzdem so voll wie immer. Auf der anderen Seite zeigt sich aber, dass die große Nachfrage auf ein enormes Potential hinweist. Wir dürfen allerdings nicht denken, dass wir nur für ein paar Monate so ein Ticket einführen müssen und dann die Mobilitätswende geschafft haben. Es dauert, bis sich das Nutzerverhalten verändert, das ist ein langfristiger Prozess. Und wir müssen natürlich auch das Angebot verbessern.
Was muss denn passieren, um ein Umdenken zu erreichen?
Wir müssen zunächst aufhören, die Autos bei der Planung so stark in den Vordergrund zu stellen und stattdessen den Öffentlichen Personennahverkehr (ÖPNV) ausbauen. Aber das ist wie die E-Mobilität nur ein Baustein. Vor allem brauchen wir für die Zukunft dezentralere, flexiblere Lösungen und vor allem Verkehrssysteme, die ganz stark auf die individuellen Situationen vor Ort zugeschnitten sind. Da sehen wir ein großes Manko.
Inwiefern?
In Städten gibt es oft ein Überangebot mit einem guten ÖPNV, mehreren E-Roller-Anbietern, Leihfahrrädern und Ruftaxis. An der Peripherie dagegen fehlt dieses Angebot, auch weil die Nachfrage weniger groß ist. Das ist ein Henne-Ei-Problem, und man kann auch nicht einfach ein irgendwo funktionierendes Konzept eins-zu-eins übertragen. Man muss mit den Akteuren vor Ort sprechen und den jeweiligen Bedarf ermitteln. Es gilt, Mobilität dezentral zu organisieren und zugleich gut miteinander zu verzahnen. So kann man mit vielen Bausteinen gezielt individuelle Angebote schaffen, die dann auch angenommen werden und funktionieren können.
Wie lange brauchen wir für die Mobilitätswende?
Das ist eine Mammutaufgabe und ein langer Prozess, der uns noch Jahrzehnte beschäftigen wird. Sobald jemand einen konkreten Vorschlag macht, gibt es einen, der erklärt, warum genau das nicht funktionieren wird. Die Verkehrswende ist daher auch nicht so sehr nur eine technische Frage, sondern eine des politischen und gesellschaftlichen Willens. Es gibt viele gute Ideen, wie man wegkommen kann vom Pkw hin zu einem System, das stärker auf ÖPNV, Sharing und Dezentralität ausgerichtet ist. Aber es geht auch um unser Selbstverständnis und die Frage, welche Rolle die Mobilität in unserem eigenen Leben spielt. Deswegen muss man mit den Menschen ins Gespräch kommen und die Prozesse demokratisch begleiten. Wir müssen die Mobilitätswende jetzt anpacken. Ich hoffe, dass wir dann merken, dass die ganzen Probleme, die wir uns immer einreden, gar nicht so riesig sind.
Inwiefern kann die H-BRS mit ihren Forschungen dazu beitragen, das Thema voranzutreiben?
Wir möchten zunächst Möglichkeiten in der Region aufzeigen. In unseren Projekten sammeln wir zum Beispiel Daten zum Mobilitätsverhalten und machen diese nutzbar, um die Grundlage für flexiblere Verkehrssysteme zu schaffen. Dafür haben wir große Projekte mit den Verkehrsbetrieben Köln und Bonn, aber wir arbeiten auch mit den Kommunen im Umland zusammen und entwickeln unter der Beteiligung von Bürgerinnen und Bürgern neue flexible und dezentrale Konzepte. Gleichzeitig entwickeln wir auch technische Tools, um die Umsetzung zu ermöglichen. So gibt es erste Prototypen für ein Mobilitätsdashboard. Die Kommunen vor Ort nehmen eine Schlüsselrolle ein und müssen die Verkehrswende am Ende stemmen. Ihnen muss man die Werkzeuge und das Know-how für ihren individuellen Bedarf zur Verfügung stellen. Wir hoffen, dass das dann auch Ideen und Konzepte für andere Regionen sind, wenn es gut funktioniert.