In der Produktion in Deutschland haben sich in den vergangenen Jahren gleich mehrere Paradigmenwechsel vollzogen. Doch die Umsetzung in die Praxis dauert länger als es wünschenswert wäre. „Der Technologietransfer wird in Deutschland noch sehr zaghaft und aus meiner Sicht nicht umfassend genug angegangen“, mahnt auch Dr. Michael Riesener. Der Nachwuchswissenschaftler sucht und findet beispielsweise Wege, Produktion und Produktentwicklung zusammen zu denken. Für seine wissenschaftlichen und wirtschaftlichen Erfolge bekam er gestern im Rahmen des Jahreskongresses der WGP (Wissenschaftlichen Gesellschaft für Produktionstechnik) die renommierte Otto-Kienzle-Gedenkmünze verliehen.
„Riesener ist ein außergewöhnlicher Forscher, ein Vordenker, der Innovationen auch zur Umsetzung bringt“, erläuterte sein Doktorvater, Prof. Günther Schuh vom Werkzeugmaschinenlabor (WZL) der RWTH Aachen in der Laudatio die Entscheidung. „Er hat den Paradigmenwechsel in der Produktion, der Produktentwicklung und Produktnutzung mitdenkt, wesentlich vorangetrieben.“
Kurz vor Weihnachten 2014 klingelte das Telefon – der Chef. Für Michael Riesener war das ein Geschenk, denn sein Doktorvater bot ihm die Stelle des Gesamtprojektleiters in seinem neuen Unternehmen e.GO Mobile an. „Ich hatte ihm gesagt, dass ich eine neue Herausforderung brauche, damit ich in Aachen bleiben kann“, erinnert sich Riesener. e.GO Mobile ist eines der Unternehmen, die der 35 Jahre alte Wirtschaftsingenieur mit aufgebaut hat und eines seiner größeren Projekte, um Produktion, Produktentwicklung und -nutzung unter ein Dach zu bekommen. Er war maßgeblich daran beteiligt, den elektrischen Kleinwagen e.GO auf einer einzigen Plattform zu entwickeln und auf den Markt zu bringen. In nur drei Jahren entstand so ein neuer Typus PKW, der aus Sicht der Produktion von vorneherein mit niedrigen Investitionen und einer digitalisierten Micro-Factory gedacht ist.
„In der Produktionswissenschaft setzt sich immer mehr die Erkenntnis durch, dass eine digitale Durchgängigkeit von der Entwicklung über die Produktion bis zur Nutzungsphase notwendig ist. Dass der Paradigmenwechsel hin zur Integration bislang meist getrennter Bereiche Erfolg verspricht, zeigt die schnelle und nachhaltige Entwicklung von e.GO. Das Unternehmen startete in einem 20 qm großen Büro mit zehn Leuten auf dem Aachener Campus des Werkzeugmaschinenlabors (WZL). Heute steht in Aachen eine Fabrik mit rund 500 Mitarbeitenden. „Für mich zeigen solche Unternehmungen, bei denen Wissenschaft und Wirtschaft an einem Strang ziehen, welche enormen Potenziale freigesetzt werden und welche Dynamik entstehen kann“, begeistert sich der Wirtschaftsingenieur.
Automatisierte Integration von der Wiege bis zur Wiege
In seiner Habilitation geht Riesener noch einen großen Schritt weiter. Es geht ihm um die automatisierte Integration der Bereiche Produktentwicklung und Produktion bis hin zur Nutzung des Produkts: „Automatisierung gibt es in immer mehr Lebensbereichen und modernen Produkten. Sie muss auch in der Produktentstehung ankommen. Dabei dürfen wir sie allerdings nicht isoliert betrachten, sondern ganzheitlich, vom gesamten Lebenszyklus eines Produktes her, vom Design über die Produktion bis hin zu Wiederverwertung (Cradle to Cradle, von der Wiege bis zur Wiege). In meiner Arbeit versuche ich vor dem Hintergrund der Kreislaufwirtschaft, die Bereiche iterativ zusammenzuführen mithilfe digitaler Durchgängigkeit. Das heißt, dass beispielsweise Prinzipien sowie Modelle und Methoden entwickelt werden müssen, um in zunehmend kürzeren Zyklen modellbasiert technische Systeme entwickeln zu können.“
Neuer Paradigmenwechsel Nachhaltigkeit
Das heißt aber auch: Riesener widmet sich hier schon dem nächsten Paradigmenwechsel in der Produktion: der Nachhaltigkeit – ökologisch, ökonomisch und sozial. Und das nicht nur in der Theorie, sondern auch in der Praxis, etwa als Mitglied im Wissenschaftlichen Beirat des Center for Circular Economy (CCE) der RWTH Aachen. Dahinter verbirgt sich eine Plattform für die interdisziplinäre Zusammenarbeit im Bereich der Kreislaufwirtschaft. Ziel ist nicht nur eine nachhaltige Produktion, sondern auch das Mitgestalten der politischen Rahmenbedingungen und die Einbindung der Gesellschaft. Das Center wurde Anfang 2022 gegründet. „Derzeit sind wir dabei, Unternehmen in ersten konsortialen Projekten an das Center zu binden, und das gelingt sehr gut“, resümiert der Preisträger.
Die strategische und operative Umsetzung von Forschungsergebnissen in die Praxis reizt den Nachwuchsforscher. Das zeigt sich nicht zuletzt in seinen diversen Nebentätigkeiten, zum Beispiel als Geschäftsführer des Center for Systems Engineering des RWTH Aachen Campus, der WZL Aachen PS GmbH und der RWTH Innovation Factory GmbH: „Der Reiz liegt für mich in der Validierung von Forschungsergebnissen im Reallabor.“
Den Studierenden nur Validiertes weitergeben
Und nur validierte Forschungsergebnisse, an die Riesener selbst glaubt, gibt er in seinen Vorlesungen auch weiter. Zu dieser Authentizität kommt hinzu, dass das Ausnahmetalent die Studierenden in kleineren Gruppen arbeiten lässt und auch mal Experten von außen zuschaltet. Das hat er sich aus Lehrveranstaltungen in Singapur abgeschaut, wo er ein Jahr lang studierte. Die aus Fernost importierten Ideen kommen bei den Aachener Zuhörerinnen und Zuhörern an, zumal es sich so leichter lernen lässt.
Die vielen Bälle, die Riesener in der Luft hält, scheint er fast mühelos zu balancieren. Das liegt, so meint er, an den vielen Synergien – und an seinem liebsten und längsten Hobby: dem Schiedsrichtern. „Ich habe schon mit 13 oder 14 Jahren beim Pfeifen von Fußballspielen gelernt, mit unterschiedlichsten Menschen auf freundliche Weise zu reden, aber auch meine Sicht der Dinge durchzusetzen – und zwar durch Überzeugung. Man muss die Befindlichkeiten unterschiedlicher Gruppen im Blick behalten und aus einer einmal bewerteten Situation heraus eine Entscheidung treffen. Zu der muss man dann auch stehen und sie gut erläutern. Dass ich das schon in meiner Jugend gelernt habe, hat einen hohen synergetischen Effekt auf meinen Beruf.“