„Wir stärken die Rolle des Menschen im Zusammenspiel mit der Technik“

Foto: Halocline

Dr. Thomas Schüler ist Virtual Reality Entrepreneur, CEO und Gründer der Halocline GmbH & Co. KG. Bei seiner Arbeit konzentriert er sich darauf, Menschen bei der Interaktion mit Datensystemen zu unterstützen. Virtual Reality ermöglicht es, ursprüngliche menschlichen Fähigkeiten zu nutzen, um die Digitalisierung voranzutreiben. Dabei sollte, so Schüler, die Mensch-Computer-Zusammenarbeit mit dem Begriff „Werkzeuge verwenden“ und nicht „Teil einer Maschine sein“ verstanden werden. Die Produkte, die Schüler bauen möchte, helfen dabei, den Arbeitsplatz der Zukunft in der digitalen Gesellschaft zu gestalten. Sein Ziel ist es, die Technologie so weiterzuentwickeln, dass sie sich gut in den Alltag der Benutzer integriert.


Die KI und die Robotik dominieren in den Diskussionen zwischen Wirtschaft und Wissenschaft. Nun kommen Sie mit der These: „Automatisierung ist überbewertet!“ Schwimmen Sie damit nicht heftig gegen den Strom?

Das könnte man auf den ersten Blick meinen. Wenn man aber etwas genauer hinhört und hinschaut, kann man feststellen, dass in der Produktionslandschaft anders diskutiert wird. Auf allen Veranstaltungen zum Thema Zukunft der Produktion, die ich besucht habe, wird die Frage, ob man in Zukunft die menschlichen Mitarbeiter eigentlich noch brauche, immer und sehr eindeutig mit ja beantwortet. Die von Menschen ausgeführten Arbeitsinhalte bilden den höchsten Anteil an der Wertschöpfung. Elon Musk hatte für seine Gigafactory ursprünglich die Idee, dass diese vollautomatisiert ist. In 2018 sagte er dann zu diesem Thema: Humans Are Underrated! Und inzwischen sehen wir einen Trend in der Industrie, der sich sehr deutlich in Richtung Flexibilisierung dreht.

Mit welchem Ziel?

Mit dem Ziel die Produktionen auf die sich heutzutage extrem schnell verändernden Rahmenbedingungen einzustellen. Unternehmen suchen unter Hochdruck nach Wegen, Energie und Ressourcen einzusparen, sowie unabhängiger von komplexen Lieferketten zu werden. Generell müssen sie immer wieder in der Lage sein, neue Anforderungen des Marktes und ihrer Kunden umzusetzen.

Neue Flexibilität statt klassischer Industrie?

Die Zeiten, in denen Henry Ford gesagt hat „Sie können einen Ford in jeder Farbe haben – Hauptsache er ist schwarz“ sind vorbei. Riesige Produktionsanlagen, die über lange Zeit unverändert eine limitierte Anzahl von Produkten herstellen, wird es so nicht mehr geben. Dies hat sich gerade in jüngster Zeit sehr verändert. Die Produkte, die heute auf dem Markt sind, sind sehr individuell.

Haben Sie ein Beispiel für diese Entwicklung?

In der Produktionsstätte des Mercedes SL in Bremen, werden 12.000 Varianten, auf dem selben Band gefertigt. Das ist kein außergewöhnliches Beispiel, im Prinzip gleicht bei den heutigen Fahrzeugherstellern kaum ein Auto dem anderen. In der Produktion von Mercedes in Bremen des SL, des Sportwagens von Mercedes, vom Band. Im Prinzip gleicht kein Auto dem anderen. Die Unterschiede zwischen den Fahrzeugen sind nicht trivial, sondern teilweise erheblich, von offensichtlichen Unterschieden wie Automatik/Schaltgetriebe bis zu elektronischen Ausstattungsmerkmalen, die bestimmte Steuergeräte erfordern. Die Produktion und die Arbeitsprozesse müssen diese Unterschiede aushalten und es ermöglichen, dass unterschiedliche Ausführungen des Fahrzeuges auf einer Linie gefertigt werden können.

Hat die klassische Automatisierung ausgedient?

Was Automatisierung gut kann, ist repetitive Tätigkeiten auszuführen. Dies wird es auch weiterhin geben. Überall wo es wiederholbare Aufgaben gibt, wird man auch weiterhin versuchen, diese zu automatisieren. Aber dies ist bereits weit fortgeschritten und nicht mehr die vorherrschende Entwicklung. Da wo Flexibilität gefragt ist, spielt der Mensch eine starke Rolle, denn er ist quasi ultimativ flexibel. Menschen können sich an veränderte Rahmenbedingungen viel schneller anpassen, als Maschinen und machen dies viel kostengünstiger. Einen Roboter umzustellen, verursacht Kosten und benötigt Zeit. Beides kann wiederum nur durch hohe Stückzahlen gerechtfertigt werden. In der zurzeit geführten Diskussion in Bezug auf die Digitalisierung wird aber fälschlicherweise diese Rolle des Menschen in der Produktion nicht wirklich berücksichtigt.

Menschen, ob in der Produktion oder nicht, handeln und entscheiden. Entscheiden rational oder intuitiv, aber nicht unbedingt digital.

Genau da liegt unser Ansatz. Wir wollen den Menschen, die in der Produktion stehen, ein Tool an die Hand geben, mit dem sie auch im digitalen Raum kommunizieren können. Heute werden Entscheidungsprozesse im digitalen Raum „über ihren Kopf hinweg“ getroffen, z.B. durch hochkomplexe Simulation eines Produktionsablaufes. Dies lässt das praktische Erfahrungswissen außen vor und muss daher für die umsetzenden Menschen nicht wirklich die beste Entscheidung bringen. Wir wollen dem Fachwissen und der Kreativität der nah an der Praxis arbeitenden Menschen mit unserem auf Virtual Reality basierten Tool einen Platz in der digitalen Welt geben – ohne dass diese dafür zu IT-Experten werden müssen. Und wir bekommen dazu aus der Produktion sehr positive Rückmeldungen. Produktionsplaner sagen uns, dass sie zum ersten Mal ihren Managern deutlich machen können, warum die von ihnen angedachte Umgestaltung eines Arbeitsplatzes sinnvoll und effizient ist. Und das funktioniert, weil beide zusammen virtuell in den Arbeitsplatz hineingehen. Die Mitarbeiter müssen nicht mehr umständlich erklären, welche Arbeitsschritte sich wo und wie verbessern lassen, sie können es einfach zeigen.

Dann sprechen wir doch quasi über digitales Kaizen, also dem von Masaaki Imai erdachten Verfahren aus der japanischen Fertigungstechnik, mit dem Ziel eines konsequenten Innovationsmanagement und permanenten Verbesserungen.

Das ist richtig. Unsere Idee ist entstanden als wir uns das Cardboard Engineering angeschaut haben. Dabei werden Arbeitsplätze mit zusammengesteckten Pappkartons nachgebaut. Mit dieser Methode für die Gestaltung von Arbeitssystemen können, ohne dabei hohe Kosten zu verursachen, Arbeitsplätze modelliert, Abläufe simuliert und Prozesse analysiert werden. Dort haben wir angesetzt und überlegt, wie wir dieses etablierte Vorgehen durch Instrumente der virtuellen Realität auf eine andere Ebene heben können.

Heißt was genau?

Mit unserer Software bewegen sich die Menschen ganz natürlich durch eine virtuelle Abbildung ihrer Fabrik. Sie gehen dabei defacto durch einen digitalen Raum, bewegen sich an ihrem virtuellen Arbeitsplatz, heben Gegenstände auf oder montieren diese mit virtuellen Werkzeugen. Und damit sind wir bei einem ganz wichtigen Punkt angekommen. Die Planer können zusammen mit den Werkern einen zukünftigen Ablauf virtuell, aber ganz real durchspielen. Dabei können sie Anordnungen oder Abläufe ganz einfach ändern und Ideen einander vorführen. So ist es viel leichter praktisches Erfahrungswissen miteinander zu teilen und dabei sogar neue Vorgehensweisen zu erlernen. Ein Meister, der einem Auszubildenden den Umgang mit einem Werkzeug beibringen will, der hält keinen Vortrag, sondern nimmt das Instrument in die Hand und zeigt, wie es angewendet werden muss. So geht es in der Realität, und so funktioniert es nun erstmals auch digital. Wenn wir wirklich von Digitalisierung sprechen wollen, müssen alle mitmachen können, also in einem Unternehmen alle Rollen jeweils ihr Wissen und ihre Fähigkeiten in die digitale Welt einbringen.

Die Digitalisierung ist ja bisher mehr eine Debatte als eine wirkliche praktische Umsetzung.

Richtig, im betrieblichen Alltag der Produktion funktioniert sie nur sehr lückenhaft, weil sie bisher hauptsächlich in Forschungs- und Pilotprojekten in den Unternehmen implementiert wird. Dabei setzen hochspezialisierte Mitarbeiter, oft mit externer Unterstützung aus Hochschulen oder von Beratungshäusern, mit komplexen digitalen Werkzeugen die berühmten digitalen Zwillinge um. Es sind also nur sehr wenige Mitarbeiter und nur sehr innovative Bereiche in der Produktion involviert. Damit kann von flächendeckender Digitalisierung bislang nicht die Rede sein. Wir müssen die Alltagstauglichkeit der Werkzeuge erhöhen, um die unbestrittenen Potentiale wirklich zu erzielen.