Wissenschaftler der Universität zu Köln und der Universität Osnabrück haben erstmals in biologischen Systemen mit einer einzigen Art nachgewiesen, dass chaosähnliche, nicht vorhersehbare Dynamiken unter völlig konstanten äußeren Bedingungen entstehen können. Solche Dynamiken, zum Beispiel Schwankungen in der Populationsdichte, treten auch ohne Interaktionen mit der Umwelt oder anderen Arten auf. Das kann erklären, warum auf unserem Planeten eine solch enorme Artenvielfalt entstanden ist.
Wenn – anders als früher angenommen – verschiedene Arten und Evolutionslinien aus sich selbst heraus irregulären chaotischen Dynamiken unterworfen sind, treffen sie nie zu gleicher Zeit in gleicher Individuenzahl aufeinander. Da eine direkte Konkurrenz der Arten somit selten wird, können sie viel länger koexistieren und sich evolutionär entwickeln. Die aktuelle Studie wurde im Fachjournal Proceedings of the National Academy of Sciences (PNAS) veröffentlicht.
Unter Biodiversität versteht man die Vielfalt des Lebens auf allen Ebenen, von den Genen bis hin zu ganzen Ökosystemen. Sie umfasst evolutionäre, ökologische und kulturelle Prozesse. Es geht dabei nicht nur um Arten, die wir als selten, bedroht oder gefährdet betrachten, sondern um alle Lebewesen – vom Menschen bis zu Organismen, über die wir wenig wissen, wie Mikroorganismen, Pilze und kleine Wirbellose. Die Biodiversität ist essentieller Bestandteil unseres Lebens. Neben der Erhaltung der Stabilität unseres eigenen Lebensraumes trägt sie auch zur Erfüllung vieler Grundbedürfnisse des Menschen bei, unter anderem als Nahrung, als Lieferant von Energie oder auch als Basis für Medikamente. Daneben ist biologische Artenvielfalt für die Bestäubung und Samenverbreitung und die Bekämpfung landwirtschaftlicher Schädlinge wichtig. Eine hohe Biodiversität ist Voraussetzung für die Klimaregulierung. Auch Nährstoffkreisläufe und die Reinigung von Trinkwasser und Abwasser benötigen eine hohe Diversität an Organismen. Die Menschheit zerstört zurzeit die Biodiversität in erschreckender Geschwindigkeit.
Ein Viertel aller Arten gilt als bedroht
Die vorliegende Studie, an der die Arbeitsgruppe von Professor Dr. Hartmut Arndt am Institut für Zoologie beteiligt war, hat untersucht, welche Mechanismen zur Artendiversität auf unserem Planeten geführt haben und was wir beachten müssen, damit diese Mechanismen weiter wirksam sind. Arndt und sein Team untersuchen schon seit vielen Jahren die dynamischen Prozesse der Koexistenz von Arten als Basis für Evolutionsprozesse an Modellorganismen.
Die Kölner Wissenschaftler*innen demonstrieren mit Hilfe von Laborexperimenten und Modelldaten erstmalig, dass ungleichmäßige Dynamiken der Individuenzahlen einer Population bereits auf der Ebene eines einzelnen Zelltyps ohne äußere Antriebe von großer Bedeutung für die Koexistenz von Arten sein können.
Die Bedeutung von Schwankungen in den Populationsdichten und deterministischem Chaos – einem scheinbar chaotischen Verhalten, obwohl die zugrundeliegenden Bedingungen vorhersagbar erscheinen – wird seit mehreren Jahrzehnten als wichtiger Faktor der Artenvielfalt in natürlichen biologischen Systemen diskutiert. Die beiden Doktoranden Johannes Werner und Tobias Pietsch in Arndts Team zeigten nun, dass die Entwicklungen von Systemen mit nur einer einzelnen Art in einem kontinuierlichen Durchfluss von Nährmedium wider Erwarten Dynamiken aufweisen, die nicht gradlinig sind, sondern sogar Merkmale von deterministischem Chaos aufweisen.
Das bedeutet, dass unvorhersehbare Schwankungen der Individuenzahlen auch unter ganz konstanten Bedingungen und ohne Interaktionen zwischen verschiedenen Arten oder schwankende Umweltbedingungen entstehen. Diese Daten wurden durch eine Modelluntersuchung, die zusammen mit dem Osnabrücker Theoretiker Frank Hilker durchgeführt wurde, ergänzt. „Das recht einfache und allgemeine Modell, das wir für die Analyse des Zellteilungszyklus entwickelt haben, weist ein bemerkenswertes Spektrum an dynamischem Verhalten auf“, sagt Johannes Werner, Erstautor der Studie.
Das beobachtete Phänomen hat grundlegende Konsequenzen für das Verständnis evolutionärer Prozesse, denn die potentielle Koexistenz konkurrierender Arten oder Zelllinien in wechselnder Häufigkeit ist eine wichtige Grundlage für die hohe Biodiversität auf der Erde. „Das Ermöglichen dieser Schwankungen ist für den Schutz der Biodiversität und ihrer Funktionen unerlässlich. Naturschutzgebiete sollten zum Beispiel so groß sein, dass das natürliche Auf und Ab der Individuenzahlen der Arten nicht zur kompletten Auslöschung führt, sondern auch bei extremen Witterungsbedingungen immer Individuen übrig bleiben, die das Überstehen der jeweiligen Art gewährleisten“, erläutert Professor Hartmut Arndt.