Trotz vielfacher Bemühungen, die Zersiedelung der Landschaft einzudämmen, schreitet sie weiter dramatisch voran. Von 1990 bis 2014 hat die Zersiedelung weltweit um 95 Prozent zugenommen. Die bebaute Fläche wuchs in diesem Zeitraum im Schnitt stündlich um rund 1,2 Quadratkilometer (mehr als 160 Fußballfelder). Das haben Wissenschaftler des Leibniz-Instituts für ökologische Raumentwicklung (IÖR) in Dresden und der Concordia University in Montréal (Kanada) in einer gemeinsamen Studie ermittelt. Ihre Ergebnisse haben sie im Fachjournal „PLOS Sustainability and Transformation“ veröffentlicht.
Besonders überrascht war das deutsch-kanadische Forscherteam über die Ergebnisse für Europa. Nicht nur, dass der Kontinent im Jahr 2014 am stärksten zersiedelt war. Im Vergleich der Kontinente im Zeitraum 1990 bis 2014 hat die Zersiedelung in Europa auch am stärksten zugenommen.
„Mit Blick auf die starke Urbanisierung in Ländern wie China und Indien hatten wir angenommen, dass die Zersiedelung in Europa sehr viel geringer ausfallen würde als zum Beispiel in den ostasiatischen Regionen und auch weniger stark als in Nordamerika. Unsere Ergebnisse haben diese Hypothese jedoch nicht bestätigt“, erläutert der Erstautor der Studie, Martin Behnisch vom IÖR (siehe Abbildungen 1 und 2). Vor dem Hintergrund der aktuell laufenden UN-Klimakonferenz (COP27) in Ägypten vermitteln die aktuellen Forschungsergebnisse wenig Optimismus, denn mit der weltweiten Zersiedelung gehen auch viele negative Folgen für Umwelt und Klima einher (siehe unten „Hintergrund Zersiedelung“).
Erste vergleichende Studie zur globalen Zersiedelung
Zum ersten Mal konnten Ausmaß und Entwicklung der Zersiedlung weltweit flächendeckend und vergleichend untersucht werden. Möglich machen dies neue globale satellitendatenbasierte Siedlungsdatensätze, die Informationen zu bebauten Flächen bereitstellen. „Für unsere Studie konnten wir auf einen Datensatz zurückgreifen, der Daten zur Bebauung und zur Bevölkerungsverteilung weltweit seit 1975 abbildet. Erst durch diese rückwirkende Fortschreibung der Daten ist es möglich, die zeitlichen Veränderungen der Zersiedelung auf dem gesamten Planeten zu analysieren“, erklärt Mitautor Tobias Krüger vom IÖR.
Das Forscherteam ging den Fragen nach: Wie groß ist das Ausmaß der Zersiedelung weltweit? Wie hat sich die Zersiedelung zwischen 1990 und 2014 verändert? Welche Hotspots und Trends lassen sich ausmachen? Die Wissenschaftler berechneten die Zersiedelung für fünf verschiedene räumliche Einheiten: Kontinente, Regionen nach dem UN-Geoschema, Nationalstaaten, subnationale Regionen wie Provinzen oder Bundesstaaten sowie ein regelmäßiges Raster mit Zellen von jeweils 50 x 50 Quadratkilometern. Damit konnten sie im Gegensatz zu früheren Studien Muster der Zersiedelung von groben bis hin zu immer feineren Maßstäben vergleichen.
Wie misst man Zersiedelung?
In das Maß der Zersiedelung, das den Analysen zugrunde liegt, fließen mit dem Anteil der bebauten Flächen an einem Gebiet, der Streuung der Bebauung und der Siedlungsdichte drei verschiedene Komponenten ein. Sie geben an, wie Landschaft durch die Ausweitung von menschlichen Siedlungsbereichen beeinträchtigt wird. Hinzu kam in der Studie außerdem ein Maß, mit dem sich Aussagen dazu treffen lassen, wie stark jeder einzelne Mensch durchschnittlich zur Zersiedelung beiträgt, indem er Fläche beansprucht (Zersiedelung pro Kopf).
Nicht-nachhaltiger Trend der Zersiedelung setzt sich fort
„Insgesamt sind unsere Ergebnisse besorgniserregend, denn weltweit setzt sich der Trend zu einer immer stärkeren Zersiedelung und nicht-nachhaltigen Entwicklung fort“, so Mitautor Jochen Jaeger von der Concordia University in Montréal. So konnten die Forscher für viele Teile der Welt belegen, dass die Zersiedelung vor allem in Ballungsräumen weiter steigt, etwa durch die Zunahme weitläufiger, wenig dichter Bebauung in den Außenbezirken von Großstädten. Sichtbar werde der Trend zur Zersiedelung auch in vielen touristisch attraktiven Küstenregionen wie entlang der französischen Riviera (Abbildung 3). Schaut man auf die Pro-Kopf-Werte der Zersiedelung, so weisen Nordamerika, Australien und wiederum Europa die mit Abstand höchsten Werte auf.
„Nur in wenigen Regionen der Welt lässt sich ein Rückgang der Zersiedelung feststellen. Von einer Trendwende zum sparsameren Umgang mit Flächen lässt sich keineswegs sprechen“, so die Autoren. So sei zum Beispiel die Pro-Kopf-Zersiedelung in Ozeanien (einschließlich Australien) seit 1990 leicht rückläufig, doch liege sie dort nach wie vor auf einem sehr hohen Niveau.
Menschliche Entwicklung ist oft mit mehr Zersiedelung verbunden
Was den Wissenschaftlern außerdem Sorge bereitet, sind ihre Ergebnisse zum Zusammenhang zwischen dem Niveau der menschlichen Entwicklung und dem Ausmaß der Zersiedelung. Um zu überprüfen, ob sich beide bedingen, bezog das Team den Human Development Index (HDI) der Vereinten Nationen in seine Untersuchungen ein. Der HDI bemisst den Grad der Entwicklung eines Landes unter anderem anhand der Lebenserwartung und der schulischen Bildung seiner Bevölkerung sowie anhand des Bruttonationaleinkommens pro Kopf.
Wie die Wissenschaftler vermutet hatten, zeigte sich ein deutlicher Zusammenhang: Die Zersiedlung war in jenen Ländern am höchsten, die auch am höchsten entwickelt waren (siehe Abbildung 4). So zeigen die Ergebnisse, dass 30 Prozent der Staaten der OECD (Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung) von einer hohen Zersiedelung und fast 90 Prozent von einer hohen Pro-Kopf-Zersiedelung geprägt sind. „Wenn man bedenkt, dass in Weltregionen wie Afrika und Asien eine Entwicklung, wie sie hochindustrialisierte Länder bereits durchlaufen haben, noch ansteht, wird deutlich, vor welcher enormen Herausforderung wir mit Blick auf die Begrenzung des Flächenverbrauchs stehen“, erläutert Martin Behnisch.
Was tun gegen Zersiedelung?
„Für eine nachhaltigere Zukunft wird es wichtig sein, ein besseres Gleichgewicht zwischen einer hohen Lebensqualität und einem sparsamen Umgang mit Fläche zu finden“, so das Autorenteam. Planungssysteme, Vorschriften und Maßnahmen, wie es sie in Industrieländern seit langem gibt, konnten die Zersiedelung bisher nicht stoppen. Hier, so die Wissenschaftler, brauche es dringend weitere vergleichende Studien über wirksame Instrumente zur Steuerung der Siedlungsentwicklung, für welche die vorgelegten globalen Ergebnisse einen geeigneten Ausgangspunkt bilden könnten.
Als bemerkenswerte Ironie der menschlichen Entwicklung der vergangenen Jahrzehnte bezeichnen die Forscher die Tatsache, dass je mehr Wissen und Planungskapazitäten in verschiedenen Ländern bereitstehen, desto häufiger kommt es dennoch zu einer starken Landschaftszersiedelung. Nachhaltigkeit in der Siedlungsentwicklung erfordere eine grundlegende Transformation der bestehenden Planungspraxis.
Hintergrund Zersiedelung
Von Zersiedelung sprechen Fachleute, wenn sich Siedlungen in gestreuter Anordnung in angrenzende Gebiete und damit in der Regel in landwirtschaftlich genutzte oder natürlich geprägte Räume ausdehnen. Gekennzeichnet sind zersiedelte Gebiete meist durch eine geringe bauliche Dichte. Das heißt, vergleichsweise wenige Gebäude nehmen eine überproportional große Fläche in Anspruch. Durch die Notwenigkeit, diese Gebiete infrastrukturell anzuschließen und zu versorgen, geht Zersiedelung mit vielen negativen Folgen für Umwelt und Klima einher. Dazu zählt die Versiegelung wertvoller Böden durch Gebäude, Straßen und Versorgungsinfrastruktur. Zersiedelung führt zu höherer Zerschneidung und Fragmentierung von Lebensräumen und gefährdet damit die biologische Vielfalt und Widerstandfähigkeit von Ökosystemen. Sie verursacht einen übermäßigen Verbrauch natürlicher Ressourcen (Baumaterial), erhöht die Luftverschmutzung durch mehr Verkehr ebenso wie den Energieverbrauch und den Ausstoß von Treibhausgasen.
In politischen Zielsetzungen für nachhaltige Entwicklung auf globaler, europäischer und nationaler Ebene wird der nachhaltige Umgang mit Flächen und damit auch die Minderung von Zersiedelung als wichtiger Punkt genannt, so in der Agenda 2030 für nachhaltige Entwicklung der Vereinten Nationen im Nachhaltigkeitsziel Nr. 11 „Nachhaltige Städte und Gemeinden“, in Europas Leipzig-Charta und in der Deutschen Nachhaltigkeitsstrategie. Die aktuelle Studie zeigt, dass offensichtlich deutlich mehr und neuartige Anstrengungen erforderlich sind, um die gesteckten Ziele zu erreichen.