Wissenschaftler aus Brasilien, den USA und Deutschland haben erstmals mit einem modernen Verfahren der Genom-Editierung aus einer Wildpflanze – dem Vorfahren unserer heutigen Tomate – innerhalb von einer Generation eine neue Kulturpflanze geschaffen. An der Studie beteiligt ist ein Team um Prof. Dr. Jörg Kudla vom Institut für Biologie und Biotechnologie der Pflanzen der Westfälischen Wilhelms-Universität Münster (WWU). Die Ergebnisse sind in der aktuellen Ausgabe des Fachmagazins „Nature Biotechnology“ veröffentlicht (Advance Online Publication).
Nutzpflanzen wie Weizen und Mais haben einen jahrtausendelangen Züchtungsprozess durchlaufen. Dabei veränderte der Mensch die Eigenschaften der wilden Pflanzen nach und nach, um sie seinen Bedürfnissen anzupassen. Ein Motiv war und ist der höhere Ertrag. Als „Nebenwirkung“ führte die Züchtung zu einer verringerten genetischen Vielfalt und zum Verlust anderer nützlicher Eigenschaften. Dies zeigt sich unter anderem durch eine erhöhte Krankheitsanfälligkeit, mangelnden Geschmack und einen verminderten Vitamin- und Nährstoffgehalt der modernen Zuchtsorten. Wissenschaftler aus Brasilien, den USA und Deutschland haben nun erstmals mit CRISPR-Cas9, einem modernen Verfahren der Genom-Editierung, aus einer Wildpflanze innerhalb von einer Generation eine neue Kulturpflanze geschaffen: Ausgehend von einer „Wildtomate“ haben sie gleichzeitig verschiedene Nutzpflanzen-Merkmale erzeugt, ohne dass die wertvollen genetischen Eigenschaften der Wildpflanze verloren gingen. Die Ergebnisse sind in der aktuellen Ausgabe des Fachmagazins „Nature Biotechnology“ veröffentlicht.
Domestikationsprozess ganz neu zu starten
„Die neue Methode erlaubt es uns, bei null anzufangen und einen Domestikationsprozess noch einmal ganz neu zu starten“, sagt Biologe Prof. Dr. Jörg Kudla von der Westfälischen Wilhelms-Universität Münster, der mit seinem Team an der Studie beteiligt ist. „Dabei können wir das gesamte Wissen über die Pflanzengenetik und -domestizierung nutzen, das Forscher in den vergangenen Jahrzehnten angesammelt haben. Wir können das genetische Potenzial und besonders wertvolle Eigenschaften der Wildpflanzen bewahren und gleichzeitig die gewünschten Merkmale moderner Nutzpflanzen in kürzester Zeit erzeugen.“ Für ihre Studien haben die Forscher insgesamt etwa drei Jahre Arbeit investiert.
Ausgangspflanze für das Pionierprojekt war die wilde Tomatenart Solanum pimpinellifolium
Die Wissenschaftler wählten als Ausgangspflanze für ihr Pionierprojekt die wilde Tomatenart Solanum pimpinellifolium aus Südamerika, den Vorfahren heutiger Kulturtomaten. Die Wildpflanze hat nur erbsengroße Früchte und liefert einen geringen Ertrag – zwei Eigenschaften, die sie als Kulturpflanze ungeeignet machen. Auf der anderen Seite sind die Früchte aromatischer als moderne Tomaten, die durch die Züchtung an Geschmack verloren haben. Außerdem enthalten die Wildfrüchte mehr Lycopin. Dieser sogenannte Radikalfänger, fachsprachlich Antioxidans, gilt als gesund und ist vor diesem Hintergrund ein erwünschter Inhaltsstoff.
Die Zahl der Früchte ist verzehnfacht
Die Wissenschaftler veränderten die Wildpflanze mithilfe von „Multiplex-CRISPR-Cas9“ so, dass die Tochterpflanzen kleine genetische Veränderungen an sechs Genen trugen. Diese entscheidenden Gene wurden durch die Forschung in den vergangenen Jahren erkannt und gelten als genetische Schlüssel für Merkmale der domestizierten Tomate. Konkret erzeugten die Wissenschaftler folgende Veränderungen gegenüber der Wildtomate: Die Früchte sind dreimal so groß wie die der Wildpflanze, was der Größe einer Cocktailtomate entspricht. Die Zahl der Früchte ist verzehnfacht, und ihre Form ist ovaler als bei der runden Wildfrucht. Diese Eigenschaft ist beliebt, weil die ovalen Früchte bei Regen weniger schnell aufplatzen als ihre runden Verwandten. Die Pflanzen haben zudem einen kompakteren Wuchs.
Eine weitere wichtige neue Eigenschaft: Der Gehalt an Lycopin bei der neu gezüchteten Tomate ist mehr als doppelt so hoch wie bei der wilden Ausgangsart und sogar mehr als fünfmal so hoch wie bei konventionellen Cocktailtomaten. „Das ist eine ganz entscheidende Neuerung, die man mit den konventionellen Kulturtomaten durch Zucht nicht erzielen kann. Lycopin kann helfen, Krebserkrankungen und Herz-Kreislauferkrankungen vorzubeugen. Die von uns geschaffene Tomate hat also unter gesundheitlichen Aspekten wahrscheinlich einen Mehrwert gegenüber konventionellen Zuchttomaten und anderen Gemüsen, die Lycopin nur in sehr begrenzten Mengen enthalten“, betont Jörg Kudla. Züchter hätten sich bislang vergeblich bemüht, den Gehalt an Lycopin bei der Kulturtomate wieder zu erhöhen. In den Fällen, in denen es gelang, sei es auf Kosten des Gehalts an Beta-Carotin gegangen, welches ebenfalls eine zellschützende Wirkung habe und und daher ein wertvoller Inhaltsstoff sei.
fasst das Dilemma der modernen Züchtung zusammen: „Durch die Zucht sind unsere heutigen Nutzpflanzen entstanden – mit all ihren Vor- und Nachteilen. Viele Eigenschaften wie die Widerstandsfähigkeit sind verloren gegangen und könnten nur durch eine jahrzehntelange, mühselige Rückkreuzung mit der Wildpflanze wiedergewonnen werden – wenn überhaupt. Denn Eigenschaften, die durch das Zusammenspiel zahlreicher Gene bestimmt werden, kann man durch klassische Zucht nicht wiederherstellen. Die Domestikation gleicht in vielen Punkten einer Einbahnstraße. Mit moderner Genom-Editierung können wir die Vorteile der Wildpflanze nutzen und dieses Zuchtproblem lösen. Kurz gesagt: Die molekulare ‚De-novo-Domestikation‘ birgt ein enormes Potenzial – auch, um neue wünschenswerte Eigenschaften zu erzeugen.“ Außerdem werde es jetzt möglich, Pflanzen die beispielsweise sehr gesund sind, aber bisher nicht oder nur sehr begrenzt durch den Menschen genutzt werden, durch gezielte Vergrößerung ihrer Früchte oder Verbesserung anderer Domestikationsmerkmale in völlig neue Nutzpflanzen zu verwandeln.
Zur Methode: Die Wissenschaftler nutzten das CRISPR-Cas9-Verfahren, um Gene in der Tomatenpflanze Solanum pimpinellifolium durch sogenannte Funktionsverlust-Mutationen gezielt zu inaktivieren. Aus den auf diese Weise genetisch veränderten Pflanzen wählten sie nach dem Heranwachsen geeignete Mutterpflanzen aus. Deren Tochterpflanzen überprüften die Forscher auf ihre äußerlich sichtbaren Merkmale und analysierten ihre Eigenschaften.
An der Studie beteiligt waren Wissenschaftler der Bundesuniversität von Viçosa und der Universität von São Paulo (Brasilien), der Universität Minnesota (USA) sowie der Westfälischen Wilhelms-Universität Münster (Deutschland). Die Arbeiten wurden finanziell unterstützt durch das Bundesministerium für Bildung und Forschung sowie auf brasilianischer Seite durch die Förderagentur für Hochschulbildung CAPES, den Nationalen Forschungsrat CNPq sowie die Forschungsorganisation FAPESP.