Wie kann die Bevölkerung der Stadt Berlin mit umweltfreundlich und regional produzierten Lebensmitteln versorgt werden? In einer kürzlich vom Leibniz-Zentrum für Agrarlandschaftsforschung (ZALF) im Magazin „Frontiers in Sustainable Food Systems“ veröffentlichten Studie berechneten die Autorinnen und Autoren die ideale Lage und Anzahl von sogenannten Lebensmittelpunkten erstmals für ein gesamtes Stadtgebiet. Das sind Orte, die für alle Berlinerinnen und Berliner innerhalb von 15 Minuten fußläufig um ihren Wohnsitz zu erreichen sind und die ausschließlich regional und ökologisch produzierte Lebensmittel anbieten.
Die Bevölkerung in Städten nimmt weltweit weiter zu. Gleichzeitig rückte im Zuge der Coronapandemie und des Krieges in der Ukraine das Thema regionale Nahrungsmittelversorgung verstärkt in den öffentlichen Fokus, denn wenn Versorgungsketten unterbrochen sind, steigen die Preise. Auch der Klimawandel, der Verlust an Biodiversität und negative Umweltfolgen machen eine Veränderung des Agrar- und Ernährungssystems notwendig.
Hierbei sind nicht nur Anpassungen in der landwirtschaftlichen Praxis gefordert. Die Autorinnen und Autoren der vorliegenden Studie schlagen auch eine radikale Veränderung der Nahrungsmittelversorgung in Städten vor, etwa um regionalen Anbietern ökologisch produzierter Lebensmittel auch Absatzmärkte zu eröffnen und um die Ernährungsbildung bei Konsumentinnen und Konsumenten zu verbessern.
Die „15-Minuten-Nahrungsmittelstadt“
Die Forscherinnen und Forscher Fabian Klebl, Beatrice Walthall und José Luis Vicente-Vicente vom ZALF stützen ihre Studie hierbei auf das Konzept der sogenannten 15-Minuten-Stadt, das erstmals im Jahr 2016 für Paris entwickelt wurde: Die Lebensqualität in Städten hängt, so die Idee, unmittelbar mit der Zeit in Verbindung, die die Stadtbevölkerung aufbringen muss, um Bedürfnisse wie Lebensmittel, öffentlicher Service, medizinische Versorgung oder Kultur zu befriedigen. Innerhalb dieser Zeit sollen Bürgerinnen und Bürger alles fußläufig erreichen, was sie im Alltag brauchen.
„Das führt perspektivisch nicht nur zur Reduktion von städtischem Verkehr und leistet damit einen Beitrag zum Klimaschutz. Mit Hilfe von Digitalisierung können im Rahmen der 15-Minuten-Stadt auch Diskriminierungen und Barrieren beim Zugang zu diesen Leistungen abgebaut werden“, erklärt Fabian Klebl, Leiter der Studie am ZALF.
Für die Versorgung mit ökologisch produzierten Nahrungsmitteln wurde dieses Konzept für Deutschland auf die sogenannten „Lebensmittelpunkte“ übertragen und in verschiedenen Städten bereits getestet. Lebensmittelpunkte beschreiben innovative Begegnungsräume, die dazu beitragen sollen, strukturelle Barrieren zwischen Produzenten und Konsumenten von Lebensmitteln zu überwinden.
Ein Beispiel ist „Das Baumhaus“ in Berlin. Hier werden nach dem Prinzip der solidarischen Landwirtschaft wöchentlich ökologisch produzierte Lebensmittel von Bauernhöfen aus der Region vertrieben, die durch die lokale Gemeinschaft unterstützt werden. Neben dem Lebensmittelvertrieb sind weitere Aktivitäten wie Workshops rund um das Thema Nahrungsmittel oder gemeinsames Kochen organisiert.
Im Februar erscheint der 40-minütige Dokumentarfilm „Seeds of Change“, der den Weg regionaler Lebensmittel vom Feld bis auf den Teller in der Region Berlin-Brandenburg begleitet. Auch die städtische Politik zeigt verstärkt Interesse an dem Thema. So soll laut Koalitionsvertrag der Rot-rot-grünen Berliner Landesregierung ein „Lebensmittelpunkt“ pro Stadtteil eingerichtet werden.
In der Studie mit dem Titel „Planung für nachhaltige Lebensmittelgemeinschaften: Eine Studie zur optimalen räumlichen Verteilung von Lebensmittelzentren unter Berücksichtigung des 15-Minuten-Stadtkonzepts – Der Fall der LebensMittelPunkte in Berlin“ haben die Autorinnen und Autoren die „ideale“ Lage und Anzahl der Lebensmittelpunkte für die Bevölkerung von Berlin errechnet: insgesamt 231 Lebensmittelpunkte seien möglich.
Damit könnten 91 Prozent der Bevölkerung ihren Nahrungsmittelbedarf mit nachhaltig produzierten Waren innerhalb eines Kilometers, oder innerhalb von 15-18 Minuten zu Fuß, abdecken. Die angewendete Berechnungsmethode berücksichtigt die Einwohnerzahl, verschiedene sozial-demographische Faktoren und verhindert Überlappungen einzelner Lebensmittelpunkte. Das Konzept ließe sich nun auch auf andere Städte übertragen, so die Autorinnen und Autoren. Dabei verstehe sich die Zahl von 231 Lebensmittelpunkten als theoretische Orientierung. In der Praxis sei es bereits begrüßenswert, wenn nur ein Anteil davon umgesetzt werde.
„Lebensmittelpunkte könnten direkt dazu beitragen, ein sozial, ökologisch und wirtschaftlich nachhaltiges und gegenüber Krisen robusteres regionales Nahrungsversorgungssystem gemeinsam mit der lokalen Bevölkerung zu schaffen“, so Beatrice Walthall, Co-Autorin der Studie.
„Dazu sollte das Land Berlin nicht nur intensiv am Aufbau dieser Lebensmittelpunkte arbeiten, sondern auch einen engeren Schulterschluss mit Akteuren in Brandenburg suchen, wo die Mehrheit der regionalen Produzenten ansässig ist.“ Zusammen könne man nicht nur neue Absatzmärkte für regionale Produkte schaffen, sondern die ganze Metropolregion zum Thema Nahrungsmittelversorgung umweltverträglicher und gerechter aufstellen – und damit auch bundesweit eine Vorreiterrolle einnehmen, fassen die Autorinnen und Autoren zusammen.