Interview zum Jahrestag des Ukrainekrieges

Dr. Alexander Leistner. Foto: Privat

Am 24. Februar jährt sich der Überfall Russlands auf die Ukraine. Seither hat es in Deutschland viele Proteste dagegen gegeben, aber auch Demonstrationen, die sich mit Russland solidarisiert haben. Wie der Krieg in der Ukraine das Geschichtsbewusstsein vieler Menschen hierzulande verändert hat, welche Protestmuster es gibt und welche Demonstrationen zum Jahrestag des Kriegsausbruchs zu erwarten sind, erläutert Protestforscher Dr. Alexander Leistner vom Institut für Kulturwissenschaften der Universität Leipzig im Interview.


Herr Dr. Leistner, welche Auswirkungen hatte der Krieg gegen die Ukraine auf die Protestkultur in Deutschland?

Zunächst hat der Einmarsch Russlands vor allem das Thema „Frieden“ wieder zu einem Thema von Mobilisierungen gemacht, ohne dass hinter den Demonstrationen automatisch die Organisationen und Initiativen der klassischen Friedensbewegung standen und ohne dass immer dasselbe unter Frieden verstanden wird. Im Grunde kann man drei Protestmuster und drei Wellen von Mobilisierungen unterscheiden. Kurz vor und gleich zu Beginn des russischen Einmarsches gab es die „Stand with Ukraine“-Mobilisierungen der ukrainischen Communities mit zehntausenden Teilnehmenden. Hier gab es klare Adressatinnen und Adressaten – Frieden wird, wenn die russische Aggression aufhört. Und es gab eine starke Solidarität mit den Betroffenen des Krieges.

Zeitverzögert begannen ab Ostern vergangenen Jahres größere „Die Waffen nieder“-Mobilisierungen der klassischen Friedensbewegung, mit sehr begrenzten Mobilisierungserfolgen. Hier blieb das Bild diffus, an wen sich die Proteste letztlich richten – selten wurde Russland klar adressiert, und es ging vor allem um das Primat des Gewaltverzichts. Und dann konnte man früh beobachten, wie aus den Corona-Protesten, aus Gruppen der extremen Rechten und rechtsoffenen Rändern der Friedensbewegung heraus das Friedensthema besetzt wurde. Diese „Frieden mit Russland“-Mobilisierungen haben ab Mitte vergangenen Jahres an Bedeutung gewonnen. Wir sehen hier, dass sich die ehemalige Querdenken-Bewegung als Friedensbewegung neu erfunden hat, deren Symbolik und Slogans bis zur Ununterscheidbarkeit nutzt und auf neuen Zulauf hofft.

Welche Demonstrationen könnte es anlässlich des Jahrestages des Kriegsbeginns geben?

Am 24. Februar und in dessen zeitlichem Umfeld werden wir alle drei Protestmuster auf der Straße sehen – vermutlich auch in Leipzig. Zum einen sind überall in Deutschland „Stand-with-Ukraine“-Demonstrationen der ukrainischen Community und ihrer Partner in der Zivilgesellschaft angekündigt, darunter eine große in Berlin, aber auch in Leipzig, unter dem Motto „Neun Jahre Krieg, ein Jahr Großinvasion – Freiheit und Frieden für die Ukraine!“. Dann gibt es überregionale „Die Waffen nieder“-Demonstrationen der klassischen Friedensbewegung, zu denen das überregionale Netzwerk „Stoppt das Töten in der Ukraine – für Waffenstillstand und Verhandlungen!“ zu Aktionen in ganz Deutschland mobilisiert.

Und wir haben das diffuse „Frieden mit Russland“-Protestgeschehen – hier sticht vor allem die Demonstration in Dresden heraus, wo der Pegida-Gründer Lutz Bachmann unter anderem neben dem AfD-Politiker Björn Höcke reden wird. Dass dabei namhafte Profiteure der Ressentimentbewirtschaftung aus der extremen Rechten den alten Slogan der Friedensbewegung „Frieden schaffen ohne Waffen“ für ihre Demonstration nutzen, ist schon Ironie der Geschichte.  Bemerkenswert ist der Aufruf von Sarah Wagenknecht und Alice Schwarzer zu einer Demonstration vor dem Brandenburger Tor am 25. Februar. Diese ist als „Aufstand für Frieden“ angekündigt und bespielt in dieser verschwommenen Aufstandsrhetorik und den halbherzigen Abgrenzungen gegen Rechts offenbar noch einmal ganz andere Protestmilieus. Wenn Sie so wollen, erkennt man daran Schnittmengen der Protestmuster.

Wird aktuell die Leipziger Tradition der Montagsdemonstrationen Ihrer Ansicht nach instrumentalisiert?

Ich finde an der Aneignung der Montagsdemonstrationen und speziell an den Demonstrationen, die suggerieren, wir lebten wieder in einer Diktatur, kann man sehr gut beobachten, wie sich das Geschichtsbewusstsein vieler Menschen entwickelt und verändert hat. Man sieht das an einem Teil der Demonstrationen, aber auch an den sehr unterschiedlichen Haltungen zum Krieg gegen die Ukraine. „Der Osten“ war und ist ein Erfahrungsraum, der damals wie heute größer ist als Ostdeutschland.

1989 hatte eine Vorgeschichte auch im östlichen Europa, und für die Revolution gab es hier wie dort viele Wegbereiter: die Opposition in der DDR, die Streiks der Arbeiterinnen und Arbeiter in Polen, der Prager Frühling oder die Menschenrechtsarbeit der Helsinki-Gruppen in der Sowjetunion. Und auch der Strukturbruch zwischen 1989 und 1991 betraf alle mittelosteuropäischen Länder und viele viel härter. Es wirkt oft so, als haben wir uns von diesem Erfahrungsraum eines Ostens, der größer ist als Ostdeutschland, abgeschnitten: Dazu gehören die großen Schwierigkeiten und sehr konkreten Erfahrungen unserer Nachbarn mit den hegemonialen Ansprüchen und kriegerischen Zugriffen der russländischen Föderation auf den postsowjetischen Raum und das alte imperiale Herrschaftsgebiet im Grunde seit Jahrzehnten. In diesem Licht und im Vergleich etwa zu den baltischen Staaten wirkt es oft so, als würde viele Menschen in Ostdeutschland Freiheit und Demokratie gar nicht wirklich wertschätzen.

Als Wissenschaftler steht es mir nicht zu, über falsche oder richtige Demonstrationen zu urteilen. Aber ich würde sagen, dass unsere Gegenwart voller Geschichte steckt und wir darum und darüber streiten müssen. Dazu möchte ich drei aktuelle Beispiele nebeneinanderstellen: An Leipziger Kirchen prangt der Spruch „2022 ist nicht 1989 – wir leben in keiner Diktatur“. Auf einer Veranstaltung der Linken-Politikerin Sarah Wagenknecht trug einer der Security-Männer den Aufnäher des NVA „Luftsturmregiments-40“ – Mitglieder dieser Eliteeinheit wurden im Herbst 1989 in Leipzig zur Niederschlagung der Demonstrationen in Reserve gehalten. Im Januar 2023 wurde in Moskau die schon erwähnte, 1976 noch in der Sowjetunion gegründete Helsinki-Gruppe von der Justiz aufgelöst und damit die älteste Menschenrechtsgruppe des Landes.