Abrupt schmelzende Eisschilde, Kollaps von Korallenriffen oder Regenwäldern: Die Natur ist komplex – und die Klimapolitik muss physikalische „Kipppunkte“ ebenso im Blick haben wie Rechenunschärfen und Messprobleme. Wie lässt sich der Kampf gegen den Treibhauseffekt gestalten, auch wenn die Welt nicht so simpel ist wie ein Treibhaus? Eine Studie liefert jetzt einen neuen, interdisziplinären Denkansatz. Sie wurde erstellt vom Berliner Klimaforschungsinstitut MCC (Mercator Research Institute on Global Commons and Climate Change) und vom Potsdam-Institut für Klimafolgenforschung (PIK).
„Ausgangspunkt ist die in der Wohlfahrtsökonomie genutzte Kosten-Nutzen-Analyse“, erläutert Michael Sureth, Doktorand in der MCC-Arbeitsgruppe Wirtschaftswachstum und menschliche Entwicklung und Leitautor der Studie. „Diese Methode stellt zum Beispiel dem wirtschaftlichen Nutzen, der durch den Einsatz fossiler Brennstoffe entsteht, die Kosten in Form von Klimaschäden gegenüber und berechnet so den optimalen Zeitpfad für den Ausstieg. Es fehlen aber häufig Daten, um die Schäden abzuschätzen – gerade bei disruptiven Änderungen im Erdsystem. Das ist auch eine Kernaussage des naturwissenschaftlichen Konzepts der planetaren Grenzen. Wir liefern nun ein erweitertes Analysemodell, das diese Lücke schließt.“
Co-Autoren sind unter anderem der Klimaökonom Ottmar Edenhofer, Direktor des MCC und des PIK, sowie der Erdsystemforscher Johann Rockström, der ebenfalls PIK-Direktor ist und 2009 das Konzept der planetaren Grenzen entwickelte: Neun Systeme, vom Klima über den Zustand der Wälder und Ozeane bis zur biologischen Vielfalt, bilden die Lebensgrundlage der Menschheit – und für jedes System gibt es Belastungsgrenzen.
Die jetzt vorgelegte Alternative zur klassischen Kosten-Nutzen-Analyse berücksichtigt das. Zwar sucht auch sie nach dem die Wohlfahrt maximierenden Vorgehen, aber nur innerhalb des Handlungsraums, den die Belastungsgrenzen ermöglichen. Bislang wurden solche Grenzen entweder ignoriert oder als starres Ziel betrachtet, das es möglichst kostengünstig zu erreichen gilt, ohne dass man den ökonomischen Nutzen durch vermiedene Umweltschäden im Modell berücksichtigte.
Die Stärke der neuen Methode zeigt sich am Beispiel der fossilen Brennstoffe: Sie macht die Umsetzung des Temperaturziels nach wie vor zur Bedingung – aber sieht auch vor, dass die Politik die Klimaschäden, die sich empirisch gut belegen lassen, unmittelbar einpreist. Das führt dazu, dass bei hohen Klimaschäden oder günstigen Preisen für erneuerbare Energien die Belastungsgrenze unterschritten und ein ambitionierteres Klimaziel sinnvoll werden kann.
„Mit Blick auf Politikberatung und gesellschaftliche Debatte in der Klimakrise bietet unser neuer Denkansatz drei Vorteile“, sagt MCC-Direktor Edenhofer. „Erstens wird ja der Handlungsspielraum ganz offensichtlich besser ausgeleuchtet. Zweitens erscheint Klimapolitik nicht als Vorgabe der Naturwissenschaft, sondern als ökonomische Abwägung. Und drittens wird deutlich, dass Klimaschäden eine ökonomische Größe sind – und damit das Vermeiden von Klimaschäden ebenso der Wohlfahrt dient wie das Produzieren von Gütern. All dies ist notwendig, um für den Weg in eine klimaneutrale Welt künftig die Akzeptanz zu sichern.“
Wie sich die Belastungsgrenzen begründen und in die Kosten-Nutzen-Analyse einfügen können, dekliniert die Studie in unterschiedlichen Varianten durch. Sie können Ausdruck eines konkreten Kipppunkts im jeweiligen natürlichen System sein oder auch nach dem allgemeinen Vorsichtsprinzip den unteren Rand eines „Gefahrenraums“ markieren.
Und wo der Zustand eines natürlichen Systems nicht exakt messbar ist, wie etwa die Unversehrtheit der Biosphäre, helfen auch „Proxy-Variablen“ wie Baumbestand, Größe von Lebensräumen oder Artenvielfalt. Das Autorenteam überträgt die planetaren Grenzen in ökonomische Terminologie und skizziert daraus abgeleitet weiteren Forschungsbedarf mit Blick auf die Dynamik der Erdsysteme, die ökonomischen Folgen menschlicher Eingriffe sowie Einflussmöglichkeiten der Politik.
„Die menschlichen Eingriffe in natürliche Systeme bergen die Gefahr katastrophaler Wohlfahrtsschäden“, warnt PIK-Direktor Rockström. „Wenn man die Belastungsgrenzen in die Kosten-Nutzen-Analyse von Politikpfaden einbezieht, führt das tendenziell zur Empfehlung von frühzeitigerem und stärkerem Gegensteuern. Der in unserer Studie präsentierte Modellrahmen könnte der ökonomischen Forschung den Weg dafür ebnen, die planetaren Grenzen besser in den Blick zu nehmen und zu helfen, dass Umweltressourcen als globale öffentliche Güter endlich nachhaltig bewirtschaftet werden.“