Die kulturwissenschaftliche Forschung seit dem Spatial Turn hat die Wechselbeziehung zwischen Kultur und Raum in den unterschiedlichsten Konstellationen untersucht. Dabei standen häufig makroskopische Räume im Mittelpunkt des Interesses – das Konzept einer globalen Welt, die Unterscheidung zwischen ‚West‘ und ‚Ost‘ oder zwischen dem globalen Norden und Süden, die Kartierung großer Räume, die sozialen Auswirkungen globaler Transport- und Kommunikationsmittel usw.
Der Workshop soll diese makroskopische Perspektive um einen dezidiert mikroskopischen Blickwinkel ergänzen. Im Mittelpunkt steht eine bestimmte Art von Räumen, die sich als Mikrotopoi bezeichnen lassen. Damit sind kleine Räume gemeint, die nur zu bestimmten Zeiten betreten und verlassen werden können. Als ‚klein‘ soll nach der Arbeitsdefinition ein Raum gelten, der ein Interaktionssystem etabliert. In Mikrotopoi zwingt also die bloße Ko-Präsenz von Körpern zur Kommunikation, und daher gilt dort immer Paul Watzlawicks Diktum, dass man nicht nicht kommunizieren kann.
Die Veranstaltung findet im Rahmen des Jahresthemas „Mehr oder weniger“ statt.
Wenn Unsicherheit die Signatur der Gegenwart ist, bringt „mehr oder weniger“ ein Lebensgefühl allgemeiner Ungewissheit zum Ausdruck. Unvorhergesehene Ereignisse und schwer kontrollierbare Phänomene scheinen sich zu häufen: in der Klimakrise, während der Corona-Zeit und erst recht in der „Zeitenwende“ seit dem russischen Angriff auf die Ukraine. Aber nicht nur in politischer und ökologischer Hinsicht werden Phänomene „mehr“: auch Informationen, Bilder und Literaturgenres werden durch die allgegenwärtige Metapher der „Flut“ repräsentiert. Hinzu treten Diagnosen einer kontinuierlichen Beschleunigung, des Niedergangs oder gar der Apokalypse, die in öffentlichen Debatten ebenso wie in sozialen Medien virulent sind – aber auch in der geisteswissenschaftlichen Forschung, die Gegenwart beobachtet.
Zugleich mehren sich die Forderungen, dass insgesamt weniger von allem da sein solle: Degrowth oder Nullwachstum empfehlen sich genauso wie tiny houses, Komprimierung und asketische (Selbst-)Praktiken von spezieller Ernährung bis hin zum Konsumverzicht florieren. Mit tl:dr (too long; didn’t read) wird im Internet die eigene – kurze – Aufmerksamkeitsspanne verteidigt. Gemeinsam ist all diesen Praktiken des weniger Werdens, dass sie die Kritik an den Folgen des Überkonsums positiv wenden, ohne die Idee des Konsums überhaupt aufzugeben: Formuliert wird lediglich ein Konsumregime unter anderen, unter ethisch vertretbar befundenen Vorzeichen.
Das Kulturwissenschaftliche Institut Essen (KWI) widmet sich 2023/24 mit dem Jahresthema „Mehr oder Weniger“ dieser Pendelbewegung und fragt, was, wann und warum mehr oder weniger geworden ist oder werden wird und welche Konsequenzen damit verbunden sind.
https://www.kulturwissenschaften.de/veranstaltungsformate/more-or-less/