Ein neuer ZOiS Report untersucht die Bildungssituation von geflüchteten ukrainischen Kindern in Deutschland. Eine Umfrage und qualitative Interviews zeigen, dass vor allem im Sekundarschulalter in den ersten Monaten nach der Ankunft deutsche und ukrainische Schulbildung parallel fortgeführt wurde. Die Autoren stellen fest, dass die Aussicht auf Rückkehr und die sozioökonomische Situation wichtige Faktoren bei Bildungsentscheidungen sind.
Die Bildungssituation ist entscheidend dafür, wie sich geflüchtete Eltern und ihre Kinder sozial integrieren. Zusammen mit der Integration in den Arbeitsmarkt ist sie ein entscheidender Faktor, um zu verstehen, wie Ukrainer*innen über ihre Zukunft nachdenken.
Um diese Themen zu beleuchten, haben Wissenschaftler des Zentrums für Osteuropa- und internationale Studien (ZOiS) im Sommer 2022 eine Online-Umfrage unter aus der Ukraine geflüchteten Eltern in Deutschland durchgeführt. Außerdem haben sie in zahlreichen Interviews mit Eltern und Jugendlichen gesprochen.
„Die Ergebnisse zeigen, in welchem Maß die parallele Ausbildung in Deutschland und der Ukraine für junge Ukrainer*innen eine Doppelbelastung darstellt“, sagen Irina Mützelburg und Félix Krawatzek, die den Report verfasst haben.
Gleichzeitig verdeutlicht die Forschung, welche Beweggründe hinter Bildungsentscheidungen stecken und zeigt, wie sich die Familien in der neuen Situation zurechtfinden und wie sie Unterschiede zwischen dem ukrainischen und deutschen Schulsystem wahrnehmen.
Parallele Beschulung
Im Sommer 2022 und in den darauffolgenden Monaten haben besonders Jugendliche im Sekundarschulalter ihre ukrainische Schulbildung weiterverfolgt, selbst, wenn sie gleichzeitig eine deutsche Schule besuchten (Abb.). Erleichtert wurde dies vor allem durch digitalisierte Unterrichtsmaterialien und -methoden, die die Ukraine in der Corona-Pandemie gefördert hatte.
„Die Gründe, die ukrainische Schulbildung fortzuführen, haben häufig mit dem Wunsch zu tun, die eigene Identität und Sprache zu bewahren, aber auch mit der Befürchtung, dass ohne ukrainische Schulbildung die Zukunftsaussichten der Kinder gefährdet seien. Für den ukrainischen Staat ist es sehr wichtig, Kinder in die nationalen Lehrpläne einzubinden, in der Hoffnung, die Wahrscheinlichkeit einer möglichen Rückkehr zu erhöhen“, erklären die Autoren.
Die Aussicht auf eine Rückkehr ist der entscheidende Faktor bei den Bildungsentscheidungen. Familien, die vorhaben, Deutschland so schnell wie möglich wieder zu verlassen, sind weniger motiviert, ihre Kinder auf eine deutsche Schule zu schicken. Gleichzeitig hat die bedrückende Realität des andauernden Krieges Auswirkungen auf das persönliche Wohlbefinden dieser Befragten, und jene, die sich eine schnelle Rückkehr in die Ukraine wünschen, berichten mit größerer Wahrscheinlichkeit auch über Gefühle von Lethargie. Im Gegensatz dazu sind Familien, die vorhaben, auf absehbare Zukunft in Deutschland zu bleiben, stärker in ihren lokalen Gemeinschaften vor Ort involviert.
Sozioökonomische Ungleichheiten reproduzieren sich
Zwischen dem finanziellen und sozialen Status der Eltern und dem Grad, in dem sie sich in die Ausbildung ihrer Kinder einbringen, zeigte sich ein Zusammenhang. War dieser Status höher, nahmen sie signifikant mehr Anteil an der Ausbildung ihres Kindes und äußerten höhere Erwartungen an dessen Ausbildung in Deutschland. Sie setzten sich stärker dafür ein, dass ihr Kind eine reguläre Klasse anstatt einer Integrationsklasse besucht. Sozioökonomische Ungleichheiten aus dem Herkunftsland werden also im Gastland reproduziert.
Unterschiede in den Bildungssystemen
Die Bildungssysteme in der Ukraine und Deutschland unterscheiden sich stark. Einige ukrainische Familien zeigen sich frustriert über das in ihren Augen niedrige Niveau und langsame Lerntempo an deutschen Schulen und machen sich Sorgen über mögliche Folgen bei einer angedachten Rückkehr. Andere wiederum loben den kindzentrierten Bildungsansatz, auf den sie getroffen waren sowie den respektvollen Umgang mit jungen Menschen und die Art, wie deutsche Behörden auf sensible Weise mit geflüchteten Kindern umgehen.