Geschichtsnarrative: Über den Umgang mit Aggressoren

Eine interdisziplinäre Wissenschaftlergruppe befasst sich ab sofort mit Geschichtsnarrativen in Europa zwischen Konflikt und Dialog. Gefördert wird der länderübergreifende Forschungsverbund mit rund 1,5 Mio Euro von der Daimler und Benz Stiftung. shutterstock_totojang 1977 ©Daimler und Benz Stiftung-totojang 1977

Die Daimler und Benz Stiftung nimmt in ihrem neuen „Ladenburger Kolleg“ Geschichtsnarrative innerhalb Europas in den Fokus. Für das Förderprojekt „Der Aggressor: Selbst- und Fremdwahrnehmung eines Akteurs zwischen den Nationen“ stehen für einen Zeitraum von drei Jahren rund 1,5 Millionen Euro zur Verfügung. Das Konsortium, das interdisziplinär und mit einer gesamteuropäischen Perspektive arbeitet, wird sich insbesondere der gegenwärtigen Deutung fremder und landeseigener Aggressoren widmen und untersuchen, wie diese Erzählungen nationale Vorstellungen prägen.

Bereits seit den Anfängen der Geschichtsschreibung werden militärische Eroberungen als Quelle für bleibenden Ruhm verherrlicht. So definieren auch europäische Nationen ihren Charakter und ihre Eigenständigkeit über die Auseinandersetzung mit Aggressoren: die heldenhafte Abwehr, das Leiden der Opfer, die freiheitsdurstige Résistance. Aktuell führt der russische Angriffskrieg gegen die Ukraine vor Augen, dass solche Geschichtsbilder nicht nur konstruiert und gepflegt, sondern auch schnell für die Legitimation blutiger Konflikte instrumentalisiert werden können.

In fast allen Ländern Europas bleibt der vergangenheitspolitische Fokus nach wie vor auf auswärtige Aggressoren und die Opfer der eigenen Nation gerichtet. Dabei wird häufig jene Gewalt ausgeblendet, die ein Aggressor aus dem eigenen Staat anderen Völkern angetan hat. Selbst in Deutschland war die Verantwortung für Völkerkrieg und -mord nach Ende des Zweiten Weltkriegs im Jahr 1945 nicht umgehend ein gängiges Grundnarrativ.

Noch deutlich später etwa drang die Kriegsführung im Ersten Weltkrieg oder der Umgang mit Kolonien ins allgemeine Bewusstsein. Paradigmatisch für Europa sind auch die unterschiedlichen Interpretationen der napoleonischen Kriege: Im Jahr 2015 verhinderte beispielsweise Frankreich, dass belgische Gedenkmünzen zur Erinnerung an die Schlacht bei Waterloo geprägt wurden, die für andere Völker einen wichtigen Teil der Befreiungskriege darstellt.

„In unserem Forschungsverbund wollen wir das Nachwirken und insbesondere die aktuelle Präsentation zentraler historischer Akteure in Europa in ihrer bi- und multilateralen Wahrnehmung untersuchen“, beschreibt Prof. Dr. Thomas Maissen die Zielsetzung des Projekts. Aktuell ist er Direktor am Deutschen Historischen Institut in Paris, im Herbst 2023 wird er auf seine Professur an der Universität Heidelberg zurückkehren.

Maissen ist wissenschaftlicher Sprecher des neuen Ladenburger Kollegs – ein breit gefasstes Forschungsprojekt mit internationalem Leitungskonsortium: Prof. Dr. Stefan Berger (Bochum), Prof. Dr. Diana Mishkova (Sofia), Prof. Ilaria Porciani (Bologna) und Prof. Dr. Balázs Trencsényi (Budapest). Darüber hinaus sind 20 Senior Scholars aus europäischen Ländern eingebunden, rund zehn Nachwuchswissenschaftler werden als Postdoktoranden bzw. Doktoranden finanziert.

Der Forschungsverbund untersucht, wie eigene und fremde Aggressoren heutzutage gedeutet werden und wie dies nationale Vorstellungen prägt. „Der Fokus richtet sich auf herausragende und umstrittene Einzelpersonen wie Ludwig XIV., Otto von Bismarck, Josef Stalin oder Slobodan Milošević“, führt Maissen aus. „Anhand der Figur des Aggressors werden wir die unterschiedlichen Geschichtswahrnehmungen innerhalb Europas aufarbeiten.“

Der Vergleich konkurrierender Geschichtsbilder verschiedener Nationen soll mit Blick auf die aktuelle Historiografie der betroffenen Länder erfolgen, also auf das wissenschaftliche Bild etwa von Napoleon I. oder Benito Mussolini. Gleichzeitig soll dieser Forschungsstand mit populären Narrativen – etwa in Schulbüchern, Museen, Filmen, Musik, Comics oder Gaming – verglichen werden. Und nicht zuletzt wollen die Wissenschaftler darlegen, wie Geschichtsnarrative im aktuellen politischen Diskurs zur identitätsstiftenden Abgrenzung benutzt werden.

Laut Maissen wird sich das Förderprojekt dafür der einschlägigen Narrativitätstheorien bedienen, die seit knapp 50 Jahren in unterschiedlichen Kontexten erfolgreich angewandt werden. Während für die Untersuchung der wissenschaftlichen Abhandlungen vor allem historische Expertise benötigt wird, ist für die Analyse populärer Geschichtsnarrative ein interdisziplinärer Zugang mit Experten aus Pädagogik, Medien-, Literatur- und Museumswissenschaft vorgesehen. Als weiteres Ergebnis soll das Ladenburger Kolleg die Voraussetzungen für ein Computerspiel schaffen, das bei den Nutzern anhand der Figur eines Aggressors national geprägte Konfliktpotenziale deutlich machen und diese zugleich entschärfen soll.