In den vergangenen 50 Jahren sind immer mehr Menschen vom Land in die Stadt gezogen. Mehr als die Hälfte der Weltbevölkerung lebt heute in oder nahe einer Stadt. Bis 2050 wird ein Anstieg auf etwa 70 Prozent erwartet. Zurück bleiben verlassene Felder, Weiden, Minen, Fabriken und ganze Dörfer. Seit den 1950er Jahren ist die Fläche der brachliegenden Landschaft weltweit auf ungefähr 400 Millionen Hektar angewachsen. Kriege und der Klimawandel treiben die Entwicklung zusätzlich voran. Wie sich die Veränderung auf die Natur auswirkt, ist noch wenig verstanden.
Forschende der Universität Göttingen und des Internationalen Instituts für Angewandte Systemanalyse (IIASA) in Österreich zeigen nun, dass die Nutzungsaufgabe von Flächen sowohl eine Chance als auch eine Bedrohung für die Artenvielfalt sein kann. Sie machen klar, dass Brachflächen bei der Bewertung von globalen Wiederherstellungs- und Erhaltungszielen entscheidend sind. Die Ergebnisse sind in einem Beitrag in Science erschienen.
Prof. Dr. Johannes Kamp aus der Abteilung Naturschutzbiologie der Universität Göttingen und Dr. Gergana Daskalova vom IIASA fassen in ihrem Artikel zusammen, wie es sich auf die Artenvielfalt auswirkt, wenn Landschaften vom Menschen verlassen werden, und was dies für die Ökologie und den Naturschutz bedeutet. Sie erkannten, dass die Auswirkungen positiv oder negativ sein können: Auf Flächen, die zuvor intensiv bewirtschaftet wurden und eine geringe Artenvielfalt aufwiesen, kehren Pflanzen, Vögel und Insekten zurück.
Nach dem Ende menschlicher Nutzung kann es zu „Rewilding“ kommen: natürliche Prozesse etablieren sich wieder, teilweise getrieben durch die Rückkehr großer Pflanzen- und Fleischfresser. Doch nicht alle aufgegebenen Flächen erholen sich ohne menschliches Zutun. Intensiv bewirtschaftete Flächen werden teilweise nie wieder so, wie sie einmal waren. Und jeder Gewinn an Artenvielfalt kann schnell zunichte gemacht werden, wenn eine Fläche rekultiviert oder umgewidmet wird – besonders, wenn sie in großem Maßstab industriell genutzt wird, zum Beispiel zur Erzeugung von Bio-, Wind- oder Solarenergie.
Anders verhält es sich mit Flächen, die über lange Zeit mit geringer Intensität oder für die Selbstversorgung bewirtschaftet wurden. Hier entstehen durch die engen Beziehungen zwischen den Menschen und der Landschaft voneinander abhängige Ökosysteme. Diese brechen zusammen, wenn die Menschen wegziehen. Hier kann die Nutzungsaufgabe zum Verlust seltener lokaler Arten oder zur Ausbreitung einzelner dominanter Arten auf Kosten anderer Arten führen.
„Die Faktoren, die zu Entvölkerung und Nutzungsaufgabe führen, verstärken sich aufgrund von Problemen wie dem Klimawandel und der sich verändernden sozialen und geopolitischen Landschaft. Zum Beispiel hat der Krieg in der Ukraine bereits neue verlassene Gebiete geschaffen“, sagt Daskalova. „Das Ausmaß und die Geschwindigkeit dieses globalen Wandels machen deutlich, wie wichtig dieses Thema ist.“
„Trotz der Dringlichkeit sind die Folgen der Nutzungsaufgabe noch nicht vollständig geklärt“, betont Kamp. „Die Wechselwirkungen zwischen der ausbleibenden Landnutzung, dem Verlust von Kultur und Tradition und dem ökologischen Wandel wurden bislang kaum beachtet. Dabei bietet das Verständnis dieser Wechselwirkungen die Chance, zukünftig Landschaften zu gestalten, die sowohl die Lebensqualität der Menschen als auch den Erhalt der Artenvielfalt verbessern.“