Eine neue Studie zur Biodiversität zeigt, dass die Artenzahl kein verlässliches Maß ist, um Ökosysteme zu überwachen. Demnach können scheinbar gesunde Ökosysteme mit konstanter oder sogar steigender Artenzahl bereits auf dem Weg in einen schlechteren Zustand mit weniger Arten sein. Solche Übergangsphasen zeigen sich aufgrund systematischer Verzerrungen selbst in langjährigen Datenreihen erst mit Verzögerung, so ein Ergebnis der Untersuchung unter Leitung der Universität Oldenburg, die jetzt in der Zeitschrift Nature Ecology & Evolution erschienen ist.
Scheinbar gesunde Ökosysteme mit konstanter oder sogar steigender Artenzahl können bereits auf dem Weg in einen schlechteren Zustand mit weniger Arten sein. Selbst in langjährigen Datenreihen können sich solche Umbrüche erst mit Verzögerung zeigen. Grund dafür sind systematische Verzerrungen der zeitlichen Trends in der Artenzahl, wie eine aktuelle Studie zeigt, die jetzt in der Zeitschrift Nature Ecology & Evolution veröffentlicht wurde.
„Unsere Resultate sind wichtig, um zu verstehen, dass die Artenzahl allein kein verlässliches Maß dafür ist, wie stabil das biologische Gleichgewicht in einem bestimmten Ökosystem auf lokaler Ebene ist“, sagt Dr. Lucie Kuczynski, Ökologin am Institut für Chemie und Biologie des Meeres (ICBM) der Universität Oldenburg und Hauptautorin der Untersuchung, in der sie und ihre Kollegen Beobachtungsdaten von Süßwasserfischen und Vögeln mit Simulationsrechnungen kombinierten.
Das Forschungsteam, zu dem neben Kuczynski auch Prof. Dr. Helmut Hillebrand vom ICBM und Dr. Vicente Ontiveros von der Universität von Girona in Spanien gehörten, war von den Ergebnissen überrascht: „Uns erfüllt mit Sorge, dass eine gleichbleibende oder sogar zunehmende Artenvielfalt nicht unbedingt bedeutet, dass in einem Ökosystem alles in Ordnung ist und die Artenzahl langfristig konstant bleibt“, erläutert Hillebrand.
„Offenbar haben wir etwa bei Süßwasserfischen negative Trends bislang unterschätzt. Arten verschwinden auf lokaler Ebene schneller als wir dachten“, so Kuczynski.
Bislang war die Biodiversitätsforschung davon ausgegangen, dass die Artenzahl in einem Ökosystem langfristig gleich bleibt, wenn sich die Umweltbedingungen nicht verschlechtern oder verbessern.
„Es handelt sich dabei um ein dynamisches Gleichgewicht zwischen Neuansiedlungen und lokalen Auslöschungen“, so Hauptautorin Kuczynski.
Zunehmende oder abnehmende Artenzahlen werden als Reaktion auf verbesserte oder verschlechterte Umweltbedingungen interpretiert. Um herauszufinden, ob sich aus einer konstanten Artenzahl tatsächlich auf ein stabiles biologisches Gleichgewicht schließen lässt, analysierten Kuczynski und ihre Kollegen zunächst mehrere tausend Datensätze, in denen die Artenzahl von Süßwasserfischen in Europa und Brutvögeln in Nordamerika in verschiedenen Gegenden über viele Jahre – bei den Fischen im Durchschnitt 24, bei den Vögeln 37 Jahre – dokumentiert worden war.
Die Forschenden wollten so ermitteln, welche Trends sich bei den einzelnen Lebensgemeinschaften zeigten. Anschließend verglichen sie die Beobachtungsdaten mit verschiedenen Simulationsmodellen, in denen sie unterschiedliche Annahmen für die Einwanderung und das Verschwinden von Arten trafen.
Das Team fand zunächst heraus, dass die Artenzahl sowohl bei den Fischen als auch bei den Vögeln in den Beobachtungszeiträumen generell anstieg. Ein Vergleich mit den Simulationen zeigte aber, dass dieser Anstieg geringer ausfiel als es eigentlich zu erwarten gewesen wäre. Diese Diskrepanz führten die Forschenden auf ein Ungleichgewicht zwischen Neubesiedlung und lokalem Aussterben zurück:
„Tiere wie Süßwasserfische, die sich nur begrenzt ausbreiten können, besiedeln unserer Simulation zufolge ein Ökosystem schneller als in klassischen Modellen, während das Aussterben später eintritt als erwartet“, so Kuczynski.
Dies führe dazu, dass nach einer Umweltveränderung in einem Ökosystem noch eine Zeitlang Arten zu finden sind, die eigentlich schon zum Aussterben verdammt sind, während gleichzeitig neue Spezies einwandern. Dieser Effekt verschleiere den drohenden Verlust an Biodiversität: „In Ökosystemen treten Übergangsphasen auf, in denen die Artenzahl höher ist als erwartet“, so die Umweltforscherin. Das Artensterben tritt erst nach diesen Übergangsphasen auf – und dann in der Regel schneller als erwartet.
Das Team geht davon aus, dass man nun neu darüber nachdenken muss, mit welchen Methoden sich Ökosysteme am besten überwachen lassen. Auch Naturschutzziele – die oft vor allem darin bestehen, die bestehende Artenvielfalt zu erhalten – müssten womöglich neu definiert werden. Das von Kuczynski und Kollegen entwickelte Modell könnte dabei als Werkzeug dienen, um verschiedene Mechanismen auseinanderzuhalten, die die Artenzahl beeinflussen. Es liefert zudem Informationen darüber, wie stark die Beobachtungsdaten von den zu erwartenden Veränderungen abweichen.