Wie ist die Mobilitätswende zu schaffen?

Keynotevortrag von Anne Klein-Hitpass, Leiterin des Forschungsbereichs Mobilität beim Deutschen Institut für Urbanistik (Difu); © ARL/Dario Eidens-Holl

Wissenschaft und Praxis sollten mutig sein, mehr Experimente wagen und Veränderung erlebbar machen, um so gesellschaftliche Widerstände gegen notwendige Veränderungen abzubauen. Zwei Tage diskutierten Fachleute aus Wissenschaft und Praxis auf dem ARL-Kongress 2023 in Leipzig über die Notwendigkeiten und Hemmnisse zukunftsfähiger Mobilität. Im Austausch zwischen den verschiedenen Fachdisziplinen wurde deutlich, dass es bereits sehr umfangreiches Wissen darüber gibt, welche grundlegenden Veränderungen notwendig sind und in welche Richtung die Mobilitätswende gehen müsste. Weitaus schwieriger gestaltet sich die Um- und Durchsetzung: Hier stehen sich viele Akteure mit oft schwer vereinbaren Interessen gegenüber.

Mobilität ist ein Grundbedürfnis und noch nie waren Gesellschaften so mobil wie heute. Entsprechend groß ist der negative Einfluss des Verkehrssektors auf das Klima. In der EU ist es der einzige Sektor, in dem die Emissionen nicht sinken, sondern seit 1990 angestiegen sind. In Deutschland war der Verkehrssektor laut Umweltbundesamt 2019 für rund 164 Mio. t Treibhausgase und somit rund 20 % der Treibhausgasemissionen insgesamt verantwortlich.

Das bedeutet, dass trotz vorhandener Effizienzgewinne durch den Einsatz modernerer Motoren, Flugzeugturbinen und Kraftstoffe die absoluten Treibhausgasemissionen, die durch den Verkehr verursacht werden, auf hohem Niveau bleiben, weil das ⁠Verkehrsaufkommen⁠ in Deutschland stetig wächst und die Fahrzeuge zugleich immer größer und schwerer werden. Hinzukommt, dass auch die anderen Verkehrsträger (ÖPNV, Sharing-Angebote, E-Scooter) nicht zu einer Verminderung des Mobilitätsaufkommens beitragen, auch wenn ihr ökologischer Fußabdruck kleiner ist als der des Autoverkehrs.

Autoland Deutschland: Kulturwandel in Sicht?

In Deutschland ist die Begeisterung für das Auto sehr eng mit dem Wirtschaftswunder der Nachkriegsjahre, mit sozialem Aufstieg, individueller Freiheit und Unabhängigkeit verknüpft. Auch wenn Umfragen nahelegen, dass die Bedeutung des Autos als Statussymbol abnimmt, ist es für viele auch weiterhin nicht nur ein Fahrzeug, sondern bedeutsames Statussymbol. Entsprechend leidenschaftlich und wenig sachorientiert werden hierzulande die Debatten um Tempolimit, Parkplätze und motorisierte Pferdestärken geführt. Die Politik hat dies jahrzehntelang mit einer sehr autozentrierten Wirtschafts-, Verkehrs- und Siedlungspolitik sowie staatlichen Anreizen und steuerlichen Subventionen aktiv befördert.

Zugleich steht das Straßenverkehrsrecht einer klimagerechten Mobilität im Weg, da es die Gestaltungsspielräume der Kommunen stark einschränkt und im Wesentlichen die Sicherheit und Leichtigkeit des motorisierten Individualverkehrs fördert. Und so orientiert sich die Verkehrsinfrastruktur und die Nutzung des öffentlichen (Straßen)Raums auch wie selbstverständlich vor allem am Auto und nicht an den vielen anderen Verkehrsträgern oder gar dem menschlichen Maßstab. Würden Wohnungen wie Städte geplant werden, dann bliebe sinnbildlich gesprochen das größte und schönste Zimmer der Wohnung dem Auto vorbehalten.

Kurze Wege und mehr Grün und Blau

Eine Verkehrs- und Mobilitätswende erfordert daher den Auf- und Ausbau klimafreundlicher Alternativen zum Auto: das heißt als Basis braucht es einen attraktiven, gut ausgebauten und bezahlbaren ÖPNV. Dazu gehören mehr Busse und Bahnen, andere Taktungen und Tarife, aber auch mehr Raum und gezielte Förderung des aktiven Verkehrs, wie Rad- und Fußverkehr. Der motorisierte Individualverkehr könnte überdies durch Car- und Bikesharing-Angebote und Plattformen zur Förderung von Fahrgemeinschaften, autonome Fahrangebote etc. reduziert werden.

Aus raumplanerischer Sicht ist neben neuen Prioritätensetzungen bei der Verkehrsinfrastruktur und veränderten Routinen im Mobilitätsverhalten der Ausbau der nahräumlichen Versorgungsangebote von großer Bedeutung – alles sollte möglichst fußläufig oder mit dem Rad erreichbar sein. So lassen sich im Alltag viele Wege, Zeit und Ressourcen einsparen.

Wenn öffentlicher (Straßen)Raum zudem nicht mehr automatisch als Dauerparkraum genutzt wird und Flächen nicht weiter versiegelt, evtl. sogar entsiegelt werden, gibt es mehr Platz für Bäume und Grün, Bänke, Spielmöglichkeiten und ruhige Aufenthaltsbereiche. Wasser könnte eine größere Rolle im Stadt- oder Landschaftsbild spielen, indem es gestalterisch oder in Form von Regenrückhaltemöglichkeiten, wie z. B. Zisternen, eingesetzt wird. Zugleich gibt es mehr Raum für einen sicher abgegrenzten, barrierefreien Fuß- und Radverkehr und entsprechende Unterstellmöglichkeiten. Lärm, Geruch und Schadstoffbelastungen reduzieren sich. Die Umgebungstemperatur kann gesenkt werden, da sich geparkte Autos ähnlich wie Gebäude stark aufheizen und diese Wärme dann auch wieder abstrahlen.

Das Ziel mehr Raum für begrünte Bereiche und Wasserflächen zu schaffen, ist klimapolitisch notwendig und schützt besser vor künftigen Hitzewellen und Extremwetterereignissen. Zugleich entstehen mehr Sicherheit und Gesundheit im Alltag und die Aufenthalts- und Lebensqualität steigt. Darüber hinaus bietet die Mobilitätswende die Chance bestehende soziale Ungleichheiten zu reduzieren und die Mobilität von weniger mobilen Gruppen zu erleichtern. Dazu aber müssen die Bedürfnisse bisher benachteiligter Gruppen sowie das Umland und der ländliche Raum raumplanerisch stärker berücksichtigt werden.

Sozial gerecht? Mobilität für vulnerable Gruppen sichern!

Die Mobilität von ärmeren Haushalten ist signifikant geringer, als die von Haushalten mit höherem Einkommen. Dies gilt im globalen Vergleich, aber auch innerhalb der Gesellschaften sind die Unterschiede enorm. Dies ist in mehrfacher Hinsicht problematisch: Zum einen gilt, je mobiler eine Gesellschaft ist, desto schwerer wiegt der Ausschluss oder die unfreiwillige Einschränkung von Mobilität. Zum anderen erzeugen die hochmobilen Lebensweisen weiter Treibhausgasemissionen, welche den Klimawandel beschleunigen. Erreichbarkeit und soziale Teilhabe waren daher zentrale Aspekte im Kontext des ARL-Kongresses, im Ergebnis sollten Klimagerechtigkeit und soziale Gerechtigkeit stärker zusammengedacht werden.

Wer aber ist mobilitätseingeschränkt?

Als zentrale Faktoren zur Bestimmung von Unterschieden im Mobilitätsverhaltens lassen sich die soziale Situation, die Erwerbstätigkeit und das Vorhandensein von Kindern im Haushalt nennen, wichtig sind außerdem Alter, das Geschlecht bzw. damit verbundene soziale Rollen, die Lebensphase, Haushaltstyp, ökonomischer Status, PKW-Verfügbarkeit und auch wo jemand lebt, also in einer Klein- oder Großstadt oder eher ländlich oder ländlich abgelegen.

Denn vor allem auf dem Land ist Mobilität häufig „autoabhängig“. Hier ist der Besitz eines Autos oft gleichbedeutend damit, zur Arbeit oder in die Sportgruppe in den nächstgrößeren Ort fahren oder die Fachärztin in der Kreisstadt aufsuchen zu können. Wer überdies Kinder hat oder Familienangehörige betreut, fährt zusätzlich pro Tag viele kleine Wege.

Die durch Betreuung und Sorgearbeit entstehenden Wege sind im Vergleich zur Fahrt zur Arbeitsstelle oder dem Wocheneinkauf meist kürzer. Weil diese Wege aber oft quer zu den Hauptverkehrsachsen liegen, welche sich zudem eher an den Stoßzeiten des Verkehrs und der Verbindung zwischen Wohnen, Arbeit und Konsum orientieren, sind sie aufwendiger, kleinteiliger und lassen sich mit öffentlichen Verkehrsmitteln häufig nicht realisieren.

Im Ergebnis sind Sorgewege daher nicht nur zeitintensiv, sondern in besonderem Maße autoabhängig. Daher müssen Mobilitätsanforderungen, die aus Sorgearbeit oder dem Wohnort resultieren, bei der Transformation des Verkehrssektors viel stärker mitgedacht werden als bisher.

Was heißt das mit Blick auf die Mobilitätswende?

Um die Vision einer zukunftsfähigen Mobilität zu verwirklichen, müssen unterschiedliche staatliche Verwaltungsebenen sowie weitere ganz verschiedene Akteursgruppen politisch und planerisch zusammenarbeiten. Mobilität ist ein Querschnittsthema: Verkehrs-, Stadt- und Raumplanung müssen integriert betrachtet sowie verkehrs- und steuerrechtlich flankiert werden. Für die Planung ist zudem eine differenzierte Datenbasis wichtig, um die Mobilitätsbedürfnisse und -erfordernisse von Menschen in unterschiedlichen Lebenssituationen und insbesondere die der benachteiligten sowie weniger mobilen Gruppen adäquat zu berücksichtigen.

Diese integrierte Stadt- und Verkehrsentwicklung ist nahräumlich fokussiert und denkt zugleich über die Stadt- und Landkreisgrenzen hinaus, um Kommunen und ihr Umland miteinander sowie verschiedene Kommunen untereinander und auf regionaler Ebene effektiv und ressourcensparend zu verbinden.

Wer von den Veränderungen betroffen ist, muss beteiligt, mitgenommen und überzeugt werden. Dazu gehören gezielte Anreize und Allianzen, aber auch Experimente und Dialog, da Veränderungen, wie die Reduzierung von Parkraum, die Umwandlung von Fahrspuren in Radwege, autofreie Quartiere etc. vielfach Widerstand auslösen. Wenn Gewohntes gegen Neues eingetauscht werden soll und der Abbau bestehender Privilegien im Raum steht, sind Konflikte vorprogrammiert. Diese müssen gesellschaftlich ausgehandelt werden. Das wird aber nur gelingen, wenn es klare Weichenstellungen seitens der Politik gibt, größere Gestaltungsräume für die Kommunen, gezielte Anreize für regionale bzw. interkommunale Zusammenarbeit und mehr Beteiligung und Planung für benachteiligte Gruppen.