Wissenschaftler des ukrainischen Fledermaus-Rehabilitationszentrums untersuchten vor kurzem die Auswirkungen der kriegsbedingten Gebäudeschäden auf die städtischen Populationen einer wichtigen und weit verbreiteten Fledermausart, der große Abendsegler (Nyctalus noctula), in der Stadt Charkiw im Nordosten der Ukraine. Die Ergebnisse zeigen, dass viele Gebäude, die von Fledermäusen als Schlafplätze genutzt werden, zerstört und etwa 7.000 Fledermäuse getötet wurden. Darüber hinaus sind teilweise zerstörte Gebäude zu einer tödlichen Falle für Fledermäuse geworden, was zu mehreren tausend weiteren Opfern führte.
Die Aufgabe des Ukrainischen Fledermaus-Rehabilitationszentrums (UBRC) ist der Schutz, die Rettung und die langfristige Erforschung von Fledermäusen, wobei die Region Charkiw im Mittelpunkt der Bemühungen steht. Charkiw ist die zweitgrößte Stadt in der Ukraine und einer der Orte, an denen die Konflikte zwischen den ukrainischen und russischen Streitkräften bisher am intensivsten waren. UBRC-Direktor Dr. Anton Vlaschenko, der auch für das Berliner Leibniz-Institut für Zoo- und Wildtierforschung (Leibniz-IZW) forscht, sagt:
„Unsere Ergebnisse deuten darauf hin, dass 45,1 % der Gebäude, die als Winterquartiere für Abendsegler genutzt werden, entweder teilweise beschädigt oder vollständig durch Beschuss zerstört wurden, was zur direkten Tötung von etwa 7.000 Fledermäusen geführt haben könnte.“ Darüber hinaus ist die kriegszerstörte städtische Umwelt in Charkiw zu einer tödlichen Falle für die Fledermäuse während der Herbstwanderung oder des Schwärmens geworden. „Fledermäuse drangen durch offen gelassene oder durch Druckwellen zerbrochene Fenster in das Innere von Gebäuden ein und wurden so eingeschlossen“, sagt die ehemalige Leibniz-IZW-Doktorandin Dr. Kseniia Kravchenko vom UBRC.
Von Menschen offen gelassene und/oder durch Druckwellen zerbrochene Fenster stellen eine erhebliche Gefahr für wandernde Fledermäuse dar. Vorallem defekte Fensterrahmen sind sehr gefährlich für Fledermäuse. Einige der Fenster in der Stadt sind mit alter Doppelverglasung versehen – zwei Rahmen mit einem Zwischenraum – und die Fledermäuse bleiben in der Mitte gefangen. „Das Problem ist in Charkiw seit den 1960er Jahren bekannt, und der Krieg verschärft es, indem es immer mehr von Menschen geschaffene Fallen für Fledermäuse gibt“, erklärt Vlaschenko. Vor dem Krieg retteten die UBRC-Wissenschaftler während der herbstlichen Fledermauswanderung bis zu 500 Fledermäuse aus solchen Fenstern.
Infolge des Krieges war die Zahl der in teilweise beschädigten Gebäuden und/oder verlassenen Wohnungen gefangenen Fledermäuse dreimal so hoch wie in den Vorjahren. Fast alle der gefangenen Fledermäuse waren Abendsegler. Das Team berichtet, dass es 2.836 große Abendsegler entdeckte, die in durch Beschuss beschädigten Gebäuden gefangen waren, und dass etwa 30 Prozent von ihnen bei der Entdeckung bereits tot waren.
Der große Abendseger fiegt in Gruppen und diese Gruppen können sich in Städtischen Strukturen verirren. „Die Größe der eingeschlossenen Fledermausgruppen war eindeutig höher als in den Vorjahren, vor allem in den durch den Krieg am stärksten beschädigten Stadtteilen wie Saltivka“, berichtet Kravchenko. Allein in den ersten Wochen des Krieges (Februar – März 2022) wurde fast die Hälfte der Gebäude, die als Winterquartiere der großen Abendsegler bekannt sind, durch russischen Beschuss teilweise (31,4 %) oder vollständig (13,7 %) beschädigt, was zur direkten Tötung Tausender von Fledermäusen geführt haben könnte.
Die Zahl der Fledermäuse in Charkiw war im Jahr 2022 außergewöhnlich hoch, da sich die Abendsegler den ganzen Herbst über im Stadtgebiet von Charkiw aufhielten. Die Wissenschaftler stellten außerdem fest, dass diese Fledermäuse eine größere Körpermasse als üblich hatten. Diese Veränderungen könnten eine Folge der Zerstörung der Straßenbeleuchtung und der Kraftwerke in Charkiw und den meisten Siedlungen in der Ukraine seit Beginn des Krieges gewesen sein. Das Fehlen von künstlichem Licht könnte dazu führen, dass mehr Fledermäuse in die Stadt eindringen, da dadurch jegliche „Lichtbarrieren“ für nachtaktive Tiere beseitigt wurde und eine rasche Erholung der nachtaktiven Insektenpopulationen begünstigt wurde.
„Der Krieg hat unser Leben und das der Fledermäuse vor viele neue Herausforderungen gestellt, aber wir lassen uns nicht von unserer Mission abbringen, die Wildtiere zu schützen und den aktuellen Kontext zu nutzen, um so viel wie möglich über unsere Lieblingstiere zu lernen“, erklärt Vlaschenko. Der Krieg hat die Arbeitsbedingungen extrem erschwert, aber das Team des ukrainischen Fledermaus-Rehabilitationszentrums bleibt aktiv und rettet weiterhin Fledermäuse, sammelt Daten, führt Workshops durch und arbeitet mit vielen Wissenschaftler:innen und Instituten in der Ukraine und darüber hinaus zusammen, beispielsweise mit dem Leibniz-IZW.