Eine ETH-Forscherin erstellt das erste Modell, das die Koexistenz von Mensch und Bär in einer Nationalparkregion Italiens auf einer Landkarte abbildet. Als Werkzeug für die Praxis identifiziert das Modell Maßnahmen und Gebiete, die vorrangig sind für die Förderung der Koexistenz von Mensch und Bär. Das Modell wird auf den Nationalpark Abruzzen, Latium und Molise angewendet, kann aber auch für andere Regionen und Groß-Raubtiere genutzt werden.
Keine zwei Fahrstunden von der Millionenstadt Rom entfernt lebt noch immer Meister Petz. Etwa 70 Exemplare des Marsischen oder Apennin-Braunbären, einer Unterart des Europäischen Braunbären, gibt es aktuell. Noch. Der Bestand konnte sich zwar dank verbessertem Schutz, Aufklärungsarbeit und präventiven Maßnahmen zur Verhinderung von Schäden, die das Tier gelegentlich anrichtet, halten und in jüngerer Zeit sogar leicht vergrößern.
Aber noch immer kommen die vom Aussterben bedrohten Bären auf Autobahnen um, oder sie sterben an Giftködern, die Trüffelsucher für die Spürhunde konkurrierender Pilzsucher auslegen. Und nicht überall in seinem Streifgebiet zeigt die Bevölkerung Verständnis für das Grossraubtier.
Karte identifiziert Koexistenzgebiete
Paula Mayer kam deshalb auf die Idee, in ihrer Masterarbeit die Koexistenz zwischen Menschen und Bär in der Region rund um den Nationalpark Abruzzen, Latium und Molise in einem Modell zu erfassen und auf einer Karte abzubilden.
Diese Karte soll lokale Beteiligten – Behörden, Naturschützern, Landwirten und Touristikern – dabei unterstützen, Gebiete und Maßnahmen zu identifizieren, die vorrangig sind für die Förderung der Koexistenz von Menschen und Bär.
«Diese Arbeit ist der Versuch, rational auf die Landschaft zu schauen und herauszufinden, wo und unter welchen Umständen Koexistenz zwischen Menschen und Grossraubtier gelingt und wo nicht», erklärt Mayer. Ihre Betreuerin, ETH-Professorin Adrienne Grêt-Régamey, ermunterte die Forscherin dazu, die Methodik ihrer Arbeit in eine wissenschaftliche Publikation zu überführen.
21 Gemeinden ausgewertet
Paula Mayer hat mit ihrem Modell Karten für insgesamt 21 Gemeinden, die im und um den Abruzzen-Nationalpark liegen, erstellt. Exemplarisch hat sie drei Gemeinden ausgewählt und genauer analysiert.
Während die eine Gemeinde gegenüber dem Groß-Raubtier positiv eingestellt ist und die Bär-Mensch-Koexistenz sehr wahrscheinlich gut möglich ist, ist das friedliche Nebeneinander in einer der untersuchten Gemeinden eher unwahrscheinlich. «Das hängt unter anderem davon ab, ob die Bewohnern einer Gemeinde schon seit langem in Kontakt mit Bären waren, oder ob sie das Tier nur vom Hörensagen kennen.» Erstaunt habe sie, dass in teilweise nur wenige Kilometer voneinander entfernten Gemeinden oft unterschiedliche Meinungsbilder über die Bären herrschten. Dies hänge meist von einzelnen Meinungsmachern ab, die (Falsch-)Informationen verbreiteten.
Die Koexistenz-Frage wird auch davon beeinflusst, ob die Menschen einer Gemeinde von eigenen landwirtschaftlichen Erzeugnissen abhängig sind oder ihr Auskommen im Tourismus oder auswärts finden, betont die Forscherin. «Tourismusgemeinden können sogar von den Bären profitieren, da sich im Abruzzen-Nationalpark ein regelrechter Wildtiertourismus entwickelt hat.»
Dort werden auch Gelder investiert, um Abfallentsorgung, Obstkulturen und Nutztierhaltung bärensicher zu machen. Anders in ländlich geprägten Kommunen, wo präventive Schutzmaßnahmen oft hinterherhinken. «Wer nur zehn Schafe besitzt, und ein Bär reißt eines davon, sieht sich in seiner Existenz bedroht», erklärt Mayer.
Ein globales Problem
Das «Großraubtierproblem» sei überall dieselbe, ist die Forscherin überzeugt. Es handle sich meist um einen Stadt-Land-Konflikt, der mit Emotionen und mit viel Symbolik, die auf das Tier projiziert werde, aufgeladen sei. «Allerdings geht es dabei vielmehr um zwischenmenschliche Dinge und Kontrolle, das Wildtier steht da nur als Symbol dazwischen.»
Die Frage sei, welche Maßnahmen es vor Ort braucht, damit die Bär-Mensch-Koexistenz gelingen kann. Ein wichtiger Faktor, den Mayer aus Interviews mit der lokalen Bevölkerung heraushörte, ist, dass die staatlichen Kompensationszahlungen rascher und unbürokratischer ausbezahlt werden sollen – oder dass überhaupt welche fließen. «Manche Menschen sind wütend, weil sie für Schäden, die einzelne Bären anrichten, trotz gegenteiliger Versprechungen nie entschädigt wurden.»
Ein Werkzeug für die Praxis
Das Modell respektive die damit erzeugten Koexistenz-Karten sind ein Werkzeug für die Praxis. Es eignet sich beispielsweise zu überprüfen, wie sich die Bär-Mensch-Koexistenz in der Landschaft über die Zeit verändert. Mit dem Modell lässt sich auch testen, ob Massnahmen lokal wirken.
«Wenn das Modell eine Karte ausgibt, die trotz Massnahmen wie Zäunen, die Bienenstöcke vor den Bären schützen sollen, Zonen niedriger Koexistenz aufweist, kann man auf die Wirksamkeit der Massnahme schliessen – und ob es an jenem Ort bessere gibt, die die Koexistenz fördern», sagt Mayer. «Das lässt sich mit dem Modell bestens überprüfen oder sogar vorhersagen.»
Um die Karten zu berechnen, braucht es auch keinen leistungsstarken Großcomputer. Die ETH-Wissenschaftlerin hat die aktuellen Karten auf ihrem Laptop rechnen lassen.
Netzwerk mit vielen Knoten
Um dieses vielschichtige Problem anzugehen, verwendete Mayer ein Bayesisches Netzwerk. Solche Netzwerke funktionieren mit bedingten Wahrscheinlichkeiten und können eine Vielzahl verschiedener Faktoren berücksichtigen und miteinander verknüpfen.
Mayers Modellansatz berücksichtigt Faktoren, die sowohl die menschliche Perspektive vertreten als auch die Bedürfnisse des Bären widerspiegeln. Dabei können diese Variablen mit örtlich expliziten Informationen aktualisiert werden. Um diese Informationen zu erhalten, arbeitete sie mit Fachleuten aus Naturschutz, Tourismus und Forschung zusammen und führte Interviews mit der lokalen Bevölkerung.
Die Bärenperspektive wird unter anderem repräsentiert durch Faktoren wie geeigneter Lebensraum und Wanderkorridore, aber auch, ob attraktive menschgemachte Nahrungsressourcen vorhanden sind, wie nicht bärensichere Abfallentsorgung, Obstgärten oder Nutztierhaltungen. Dies beeinflusst die Wahrscheinlichkeit, dass Bären in und um Siedlungen auftreten können.
Das Modell erfasst auch Bedrohungen für Bären, wie nicht eingezäunte Straßen- und Eisenbahnabschnitte oder Gebiete, die durch Touristen und Touristinnen stark gestört werden. Die menschliche Perspektive wird beeinflusst durch Netzwerkknoten wie verschiedene Typen landwirtschaftlicher Nutzung, Jagd und Trüffelsammeln aber auch durch Gemeindepolitik, Schadenskompensation, Wissen und Emotionen in Hinsicht auf die Bären.
All diese Knoten verknüpft das Modell und berechnet eine Karte. Diese deckt die Gebiete auf, wo die Mensch- Bär-Koexistenz am besten funktioniert. Zonen also, wo sowohl die Toleranz der Menschen hoch und die Lebensbedingungen für die Bären gut sind, aber auch jene Gebiete, wo schlechtere Bedingungen herrschen.
«Dieses Modell ist sehr gut geeignet, um das komplexe Geflecht von Abhängigkeiten, die der Koexistenz von Grossraubtieren und Mensch zugrunde liegen, abzubilden», sagt Mayer.
Die Netzwerkknoten sind darüber hinaus beliebig erweiterbar; in anderen Zusammenhängen können Knoten entfernt, ersetzt und neue hinzugefügt werden. Das Modell lässt sich also relativ einfach anpassen und auf andere Fälle zuschneiden – etwa auf andere Regionen oder Tierarten wie den Wolf. «Entscheidend ist dabei die Zusammenarbeit mit den Menschen vor Ort, um die spezifischen Informationen aus dem lokalen Kontext in das Modell einfließen zu lassen», erklärt die Forscherin.