Prof. Dr. Matthias Middell ist Professor für Kulturgeschichte, Sprecher des SFB 1199 und des Leipzig Research Centre Global Dynamics. Er gibt die Zeitschrift Comparativ. Journal of Global History heraus. Er ist Vorstandsmitglied des Comité International des Sciences Historiques und des Conseil International de la Philosophie et des Sciences Humaines, wo er die Global History of Humankind verantwortet.
Warum interessieren Sie sich für einen globalen Blick auf „gesellschaftlichen Zusammenhalt“? Wieso ist das bei all den Herausforderungen für uns in Deutschland relevant?
Zunächst, also 2015/16, erschien die Zusammenhaltsdebatte als eine spezifisch deutsche Reaktion auf die Herausforderungen durch Pegida und AfD. Schnell war die Rede von der Gefahr einer gespaltenen und polarisierten Gesellschaft, und quasi alle Parteien und Politiker:innen bekannten sich zum Ideal eines, allerdings ungenau definierten, gesellschaftlichen Zusammenhalts. Seitdem beobachten wir eine rasante Ausbreitung des Rufs nach Zusammenhalt angesichts meist rechtspopulistischer Bewegungen, Regime- und Staatenlenker:innen – von Trump in den USA über Orbán in Ungarn zu Kaïs Saïed in Tunesien. Gleichzeitig forciert beispielsweise die chinesische KP eine Diskussion über die Art und Weise, diesen Zusammenhalt herzustellen und auszubauen, die eine Absage an westliche Vorstellungen von Zusammenhalt darstellt.
Und in Deutschland?
Unsere deutschen Zusammenhaltsdiskurse sind also Teil einer globalen Auseinandersetzung über Politik und demokratische Teilhabe der Zukunft. Es lohnt sich genau hinzuschauen, welche Argumente und Motive in unsere Definition von Zusammenhalt einfließen. Denn der Begriff ist nicht immun gegen totalitäre, nationalistische, fremdenfeindliche und individuelle Freiheitsrechte einschränkende Bedeutungsfacetten – so sympathisch er im ersten Moment erscheinen mag.
Wie wird dieses Konzept denn in der internationalen Forschungslandschaft diskutiert, welche regionalen Unterschiede tun sich hier auf?
Die Aufmerksamkeit für populistische Bewegungen und Regime ist in den letzten Jahren in vielen Teilen der Welt fast exponentiell gewachsen, denn ihr Wachsen fordert regionale und nationale politische Systeme ebenso heraus wie die Formate der internationalen Ordnung. Dabei sind die Unterschiede zwischen all den diagnostizierten Populismen beträchtlich. Interessanterweise ist aber auch die Fähigkeit und Bereitschaft vieler Populist:innen zu Allianzen enorm, auch wenn es programmatisch gar nicht ohne Weiteres zu erwarten wäre. Wir sehen das im EU-Parlament ebenso wie beim Treffen der BRICS+ oder in der Koalition von Militärjuntas in der Sahelzone. Und viele warten mit Spannung auf den Ausgang der nächsten amerikanischen Präsidentschaftswahlen, bevor sie sich mit Prognosen über den Zusammenhalt in den USA hervorwagen.
Interessierte sich die Welt denn für einen globalen Zusammenhalt?
Interessanterweise führt das aber erst einmal in eine fragmentierte Forschungsdiskussion, bei der jeder Fall einzeln erörtert wird, aber der globale Zusammenhang gar nicht besonders zu interessieren scheint – abgesehen vom Befund, dass man es wohl überall mit Populismus zu tun habe. Dies liegt vor allem daran, dass erstens die jeweiligen historischen und sozioökonomischen Kontexte tatsächlich sehr verschieden sind, und dass zweitens der globale Vergleich Zusammenarbeit verschiedener Regionalexpert:innen in einem gemeinsamen Projekt erfordert, die oft gar nicht vorhanden ist.
Das FGZ schließt seine erste Förderperiode in wenigen Monaten ab. Was zeichnet in Ihren Augen die Forschung am FGZ und speziell am Leipziger Standort besonders aus?
Die Universität Leipzig hat sich in das FGZ – immerhin ein bundesgefördertes Forschungsinstitut an elf Standorten – mit einer großen Zahl von Schwerpunkten eingebracht. Diese reichen von der Extremismusforschung, der historischen Forschung, der Sozialpsychologie und der wirtschafts- und sozialwissenschaftlichen Untersuchung des Versprechens gleicher Lebensverhältnisse bis zu den Area und Global Studies. Mit dem Profil, global beobachtbare Dynamiken zu analysieren, ist der Leipziger Standort besonders aktiv in der Öffnung des FGZ über eine deutsche Nabelschau hinaus. Das gelingt, indem wir Empirie einbringen zu Ost- und Westeuropa, China, den USA und dem subsaharischen Afrika und damit neue Fragen generieren, die die vertiefte Betrachtung des deutschen Falles allein vielleicht gar nicht aufwerfen würde.
Das Konzept des gesellschaftlichen Zusammenhalts hat in den letzten Jahren einen bemerkenswerten Aufstieg zu einem zentralen Schlagwort in politischen und sozialwissenschaftlichen Debatten erlebt. Wie erklären Sie als Historiker sich diesen Aufstieg, womit hängt er möglicherweise zusammen?
Zunächst reagierte der Begriff auf eine Irritation in den politischen Systemen und auf die wachsende Wählerschaft rechtspopulistischer Parteien. Doch inzwischen muss man den Radius größer ziehen. Mir scheint, dass im Verlangen nach „Zusammenhalt“ verhandelt wird, wie wir mit den Herausforderungen und Zumutungen der 2020er Jahre umgehen wollen: Die oftmals schon ideologische Globalisierungseuphorie hat sich abgeschwächt, gleichzeitig ist ein vollständiger Rückzug aus den entstandenen Verflechtungen kaum realistisch.
Vom 14. bis 16. September 2023 findet in Leipzig die diesjährige Jahreskonferenz des Forschungsinstituts Gesellschaftlicher Zusammenhalt (FGZ) statt. Drei Tage lang diskutieren dort mehr als 150 Teilnehmer:innen das Konzept des gesellschaftlichen Zusammenhalts aus globaler und historisch vergleichender Perspektive. Im Gespräch erläutert Prof. Dr. Matthias Middell, Kulturhistoriker an der Universität Leipzig und Sprecher des FGZ, den Wert einer solchen Perspektive – und wieso Zusammenhalt ohne Streit gefährlich ist.
Das Scheitern des Versprechens, dass die „Globalisierung“ Frieden für immer, früher oder später Wohlstand für alle und eine neue Weltordnung des automatischen Interessenausgleichs hervorbringe, muss verarbeitet werden. Die Weltgesellschaft wird es also vorläufig nicht richten. Da liegt es nahe, sich wieder auf Gesellschaft im alten nationalen Gewand zu besinnen – nur sind eben deren Grenzen ganz anders porös geworden, als es der Traum abgeschotteter Entitäten wahrhaben will.
Aber die meisten Probleme sind doch global?
Und gleichzeitig drängen uns Pandemieerfahrungen und das Entsetzen über die Folgen des Klimawandels zu mehr Kooperation statt weniger. Daraus ergibt sich die Notwendigkeit, unser Zusammenleben vor Ort, in Nationalstaaten und auf dem Planeten neu zu denken. Der diskursive Zufall will es, dass wir das diesmal in Begrifflichkeiten des gesellschaftlichen Zusammenhaltes tun, wie wir es in früheren Epochen beispielsweise etwa um den Zentralbegriff der Solidarität oder den der Nation getan haben. Die Problemlage entwickelt sich historisch, aber sie bleibt auch im Kern die gleiche – wie justiert man Teilhabe und Kooperation?
Wozu rät die Forschung: Was tun gegen zunehmende Polarisierung und das Bröckeln des Zusammenhalts?
Schon die Diagnose scheint mir zweifelhaft. Dass wir diskutieren und politisch streiten, zeigt die Größe der Herausforderung und die Tatsache, dass niemand beanspruchen kann, schon die finale Lösung zu kennen. Dort, wo wir in so einer Situation nicht mehr streiten, ist die Entwicklung vermutlich zum Stillstand gekommen. Ob jede Form des Streits optimal ist, ist eine ganz andere Frage. Aber ich rate dazu, diesen notwendigen Streit fröhlich anzunehmen und mit Gelassenheit zu führen – er ist die beste Form des Zusammenhalts, die wir haben, sowohl in Deutschland, als auch in den vielen globalen Settings. Ich halte den Traum von einem Zusammenhalt ohne politische Auseinandersetzungen über die besten Lösungen für gefährlich – in der Geschichte kennen wir viele Beispiele, wie das schief gegangen ist.
Was bedeutet dies für die Politik?
Politische Auseinandersetzungen sind allerdings das Gegenteil von dem, was häufig als Polarisierung beschrieben wird, denn in extrem polarisierten Situationen wird dem Gegenüber das Recht abgesprochen, eventuell auch Recht zu haben, oder sogar das Recht, mitreden zu dürfen. Kippen Gesellschaften in diesen Zustand, berauben sie sich entscheidender Entwicklungsmöglichkeiten, die sich nur durch permanente Lernbereitschaft ergeben.
Das Interview führten Sarah Lempp / Roman Krawielicki.