Das Wort Müll hat Johannes Weinig schon erfolgreich aus seinem Wortschatz gestrichen. „Das ist total ‚old fashioned‘. Wir sprechen heute von Abfall, aber noch besser trifft es Wertstoffe“, erklärt der Professor für Wasser- und Abfallwirtschaft am Campus Minden der Hochschule Bielefeld (HSBI). Unter einem strahlend blauen Himmel steht Weinig in neongelber Warnweste auf der Anlieferstraße des Entsorgungszentrums Pohlsche Heide in Hille im Kreis Minden-Lübbecke. Hinter dem erfahrenen Ingenieur und Hochschullehrer versperren eine Gaskugel und die Hallen der Mechanisch-Biologischen Abfallbehandlungsanlage (MBA) den Blick auf das eigentliche Herzstück der Anlage, den rund 20 Meter hohen und rund 600 Meter langen Deponiehügel.
Im Schatten der grasbewachsenen, nach oben offenen Pyramide verstecken sich auf dem weitläufigen Gelände außerdem mehrere Klärbecken und eine Kompostieranlage. Jeder Einwurf der rund 311.000 Bewohnerinnen und Bewohner des Kreises in ihre Haus- oder Biomülltonne landet früher oder später auf der Pohlschen Heide. Rund 75 Tonnen Haus- und Gewerbemüll und 55 Tonnen Biomüll sowie ein kleiner Teil an gewerblichen Abfällen und Klärschlämmen kommen so pro Jahr zusammen.
Wissenschaft und Kommune im Dialog über die „Deponie der Zukunft“
Für einen Austausch über den zukünftigen Umgang mit der Ressource Abfall könnte der Ort also kaum besser gewählt sein. Zusammen mit 20 anderen Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern gehört Weinig zu einer Gruppe, die das Gelände der Deponie und den darauf befindlichen zukünftigen Standort der „Smart Recycling Factory“ („SRF“) besucht und Möglichkeiten für Forschungsprojekte und Kooperationen auslotet. Hinter dem griffigen Namen verbirgt sich ein Konzept, mit dem die Kreis Abfall Verwertungsgesellschaft Minden-Lübbecke (KAVG) die Entsorgungsanlage zum „Ressourcenzentrum der Zukunft“ machen will.
In der Gegenwart geht es aber erst einmal darum, für alle Teilnehmenden einen Platz im Bus zu finden, der die Gruppe um den Deponiehügel zu den verschiedenen Anlagen der Deponie fährt. „Das Kernthema zukünftiger Abfallbehandlung muss es sein, echte Stoffkreisläufe sozusagen von der Wiege bis zur Bahre zu installieren“, sagt Weinig, als der Bus ungefähr die Mitte der Umgehungsstraße um den Deponiehügel erreicht hat. Wie ein echter Stoffkreislauf ohne Verluste aussehen kann, zeigt die erste Zwischenstation: In der Kompostieranlage wird aus dem größten Teil des angelieferten Biomülls nach neun Wochen Gärung und Verrottung hochwertiger Humus gewonnen. Anschließend wird dieser Mutterboden an Gartenbauunternehmen verkauft und bildet die Grundlage für neue Pflanzen.
An vergleichbaren Kreisläufen für die im Hausmüll und Sperrmüll enthaltenen Wertstoffe hapert es noch. Die für eine Kreislaufwirtschaft (Circular Economy) interessantesten „Fraktionen“, wie die einzelnen Abfallgruppen fachsprachlich genannt werden, sind Batterien, Elektroschrott, Kunststoffverpackungen und Bauabfälle. Alle kommen in unterschiedlichen Mengen im angelieferten Haus- und Gewerbemüll der Pohlschen Heide vor. Bisher werden sie im Anschluss an ihre Sortierung und Zerkleinerung entweder im Deponiehügel für die Ewigkeit verschlossen oder zur Energieerzeugung verbrannt. Die darin enthaltenen Rohstoffe wie Beton, Sand, aber auch Metalle, seltene Erden und recycelbare Baustoffe sind damit verloren. In Zeiten knapper werdender Ressourcen und steigender Preise für Rohstoffe und Energie wird dieser lineare Produktlebenszyklus zu einem ökologischen und betriebswirtschaftlichen Problem.
EFRE-Förderung: Von der Deponie zum Zwischenlager für Wertstoffe
Hier setzt das Konzept der „Smart Recycling Factory“ an, mit dem der Deponiebetreiber KAVG das Recycling auf der Pohlschen Heide revolutionieren will. Auf der sich ihrem Ende nähernden Bustour ist mittlerweile der zukünftige Bauplatz des bisher durch NRW-Landesmittel und den Europäischen Fonds für regionale Entwicklung (EFRE) geförderten Großprojektes erreicht. Noch ist vom zukünftigen Gebäudeensemble nicht viel zu sehen. Einige gelb gestrichene Kiefernstämme markieren die Außenmaße des hier geplanten Auftaktgebäudes.
Nach der Fertigstellung sollen hier ein Innovationszentrum, eine Forschungshalle und ein Transferzentrum eine neue bauliche Einheit bilden, die in Sachen Kreislaufwirtschaft Maßstäbe setzen will: Während im Innovationszentrum Start-ups, Forschende und Unternehmen neue Ideen in Prototypen und Geschäftsmodelle umsetzen, soll die Forschungshalle mit ihren Laboren flexible Nutzungen für die Hochschulen der Region ermöglichen. Zwischen diesen beiden Bauteilen soll ein Transferzentrum die entstandenen Projekte und Prototypen der „Smart Recycling Factory“ für die Öffentlichkeit zugänglich machen.
Im Kleinen findet diese Transferdimension bereits heute ihre Umsetzung: Im fertiggestellten außerschulischen Lernort „zdi MINTIab“ werden Schulklassen an die Themen Kreislaufwirtschaft und Umwelttechnik herangeführt. „Mit der Pohlschen Heide können wir einen hervorragenden Standort für die Themen der Circular Economy bieten“, erklärt Henning Schreiber, Geschäftsführer der KVAG und heute Tourguide der HSBI-Gruppe. „Wir verfügen hier bereits über alle Rohstoffe und Materialien und bringen in der Smart Recycling Factory künftig alle Akteure der Wertschöpfungskette zusammen.“
Sortenreinheit heißt die Hauptherausforderung
Im Forschungszentrum sollen Prototypen und Anwendungen entwickelt werden, die eine getrennte Aufbereitung und Lagerung der unterschiedlichen Stoffe auf der zukünftigen Deponie sicherstellen. Damit würde die Pohlsche Heide von einer klassischen Deponie zu einem Zwischenlager für Wertstoffe. Das angepeilte Ziel dafür heißt Sortenreinheit. Denn die derzeit angelieferten und am Ende deponierten Abfälle setzen sich aus einem bunten Mix unterschiedlicher Bestandteile zusammen, die nach ihrer Behandlung in den Anlagen der Deponie nicht mehr voneinander zu trennen sind. Dafür braucht es Lösungen, und hier kommen die Forschenden ins Spiel.
Neben dem Aspekt der Nachhaltigkeit macht Henning Schreiber noch auf einen weiteren interessanten Effekt der „smarten“ Deponie aufmerksam – anders als bisherige Deponien wächst sie nicht unaufhörlich: „Für Abfallstoffe, die derzeit noch nicht recycelt oder aufbereitet werden können, wird aktuell eine gewaltige Menge an Deponievolumen zur Ablagerung benötigt. Durch intelligente Deponierung und die Möglichkeit, diese Abfälle in den Wertstoffkreislauf zu geben, können wir die Deponiekapazitäten reduzieren.“
Smarte Technologien sollen beim Finden der Rohstoffe helfen
Dafür braucht es neue, intelligente Technologien, die über die bisherigen Verfahren zur Sortierung der Deponie hinausgehen. Mittlerweile ist die Busrundfahrt zu Ende, und die Gruppe steht nach einem kurzen Fußweg in der Mechanisch-Biologischen Anlage. In den beiden fußballfeldgroßen Industriehallen findet die eigentliche Behandlung der angelieferten Abfälle vor der Deponierung statt. Zwei riesige Schredder und mehrere gelbe Radlader dominieren den optischen Eindruck. Die ankommenden Abfälle werden mit den Baumaschinen in die Schredder geschoben und dort zu wenigen Zentimeter großen Partikeln zermahlen.
Anschließend läuft der Abfallstrom über ein System von Förderbändern und Sieben, auf denen die „Fraktionen“ nach Größe und Art sortiert werden. Magnete detektieren Metallteile und entfernen diese teilweise aus dem Stoffstrom. Nach der biologischen Behandlung durch Mikroorganismen wird die verbliebene „Feinfraktion“ im Hügel nebenan deponiert. Die nicht deponierbare „Grobfraktion“, zu der unter anderem Kunststoffe, Holzpartikel, Textilien oder Papier gehören, wird als Brennstoff in Müllverbrennungsanlagen oder in der Baustoffindustrie genutzt. Zwar ist diese „energetische Verwertung“ besser als keine Verwertung. Dennoch sind die enthaltenen Stoffe in diesem „Downcycling“-Prozess jeder weiteren Verwertung entzogen.
Alle Stationen eines Produktlebens müssen in den Blick genommen werden
Um Kreisläufe auch bei den Stoffen aufrechtzuerhalten oder zu schließen, die bisher nur noch deponiert oder verheizt werden können, braucht es also neue Ideen: Neben der smarten Optimierung der vorhandenen Verfahren am Ende eines Produktlebens, können auch alle anderen Stationen des Produktlebenszyklus der Punkt sein, an dem sich der Kreis schließt. Heike Wulf, die als Technologiescout im HSBI-Projekt Innovation Campus for Sustainable Solutions (InCamS@BI) an der Optimierung von Kunstsoffen für eine Kreislaufwirtschaft arbeitet, verfolgt einen solchen Ansatz: „Wir müssen in Zukunft frühzeitig ansetzen. Einerseits geht es dabei um Vermeidung und um die Entwicklung langlebiger Produkte. Andererseits muss der Kunststoffabfall, den es weiterhin geben wird, sauberer von anderen Materialien getrennt werden. So erhalten wir Recyclingmaterial, das wirklich recycelbar ist und nicht nur zum Downcycling taugt.“
Ein implantierter „Pass“ als Grundlage für maßgeschneidertes Recycling
Einen womöglich bahnbrechenden Ansatz hat ihr Teilprojektleiter im InCamS@BI-Projekt an diesem Tag mitgebracht: Prof. Dr. Christian Schröder schwebt ein digitaler Produktpass vor, wie er von der Europäischen Kommission im aktuellen Entwurf für eine neue Ökodesign-Verordnung vorgeschlagen wird. In einem Datensatz sollen alle relevanten Informationen über die Entstehung, materielle Zusammensetzung und Historie eines Produkts dezentral hinterlegt werden und über einen Marker oder eine ID eindeutig mit dem im Umlauf befindlichen Produkt verknüpft sein.
„Diese ID müsste sehr robust und auch nach Zerlegung des Produkts in Einzelteile noch auslesbar sein. Deshalb müsste sie ähnlich eines Chips auf der Mikroebene des Produktmaterials implantiert sein“, erklärt Schröder seine Idee dazu.
Im Hinblick auf Kunststoffabfälle könnte sie eine Lösung für die häufig verwendeten Zusatzstoffe (Additive“) bieten. Mit Hilfe dieser Zusätze werden bestimmte positive Produkteigenschaften wie Hitzebeständigkeit, Lichtbeständigkeit oder Elastizität hervorgerufen. Als negative Begleiterscheinung verhindern die Additive, sofern sie überhaupt bekannt sind, dass der Kunststoff in anderen Produkten verwendet werden kann.
„So könnte man auch nach dem Schreddern wissen, welche Bestandteile der Kunststoff hat und ihn passgenau recyceln“, beschreibt der Professor am Fachbereich für Ingenieurwissenschaften und Mathematik der HSBI einen Anwendungsfall für den digitalen Produktpass.
Die Führung ist zu Ende und die HSBI-Besuchergruppe löst sich auf. Johannes Weinig steht vor der Halle der Mechanisch-Biologischen Anlage und blickt auf den jetzt malerisch im Abendlicht liegenden Deponiehügel. Über dem ziehen nun erstaunlich viele Greifvögel und sogar ein Storch ihre Bahnen. „Das smarte Denken sollte eine Denken ‚out of the Box‘ sein. Zu oft bedeuten Zugewinne an Effektivität und Rationalisierung in der Wirtschaft nicht weniger, sondern mehr von demselben“, verweist Weinig auf einen Rebound-Effekt.
„Smart wäre es für mich, wenn wir in Zukunft über die Smart Recycling Factory oder ähnliche Projekte sprechen und dabei nicht nur an Abfalloptimierung, sondern auch an Verbrauch denken.“