Klimaforschende weltweit warnen vor dem Übertreffen von kritischen Temperaturwerten auf der Erde. Werden die sogenannten Kipppunkte überschritten, kann das katastrophale Folgen haben. Ein internationales Team von Forschenden, unter Beteiligung der Technischen Universität München (TUM), hat jetzt in Simulationen gezeigt, dass der Temperatur-Kipppunkt des Grönland Eisschilds in bestimmten Fällen kurzzeitig überschritten werden darf, wenn danach vehement gegengesteuert wird. Schmilzt die Eisfläche dagegen vollständig ab, könnte dies zu einem massiven Anstieg des Meeresspiegels führen.
Grönland ist nach der Antarktis die zweitgrößte permanent vereiste Fläche der Welt. Der grönländische Eisschild leidet massiv unter dem Einfluss des Klimawandels und könnte bei vollständigem Abschmelzen eine Erhöhung des Meeresspiegels um über sieben Meter verursachen – eine Katastrophe für Küstenregionen weltweit und die dort lebenden Menschen. Der kritische Kipppunkt für das Worst-Case Szenario liegt zwischen einer Erderwärmung von 1,7 und 2,3 Grad Celsius über dem präindustriellen Level im Jahresmittel. Wird dieser Punkt überschritten, so die bisherige Annahme in der Klimaforschung, sei das Eisschild Grönlands für immer verloren. Das internationale Forschungsteam konnte nun aber simulieren, dass es selbst nach der Überschreitung dieser Grenze noch einen Weg zurückgibt.
Wie der Grönland-Eisschild noch zu retten ist
Niklas Boers ist Professor für Erdsystemmodellierung an der TUM und Mitglied des Potsdam Institut für Klimafolgenforschung (PIK). Zusammen mit Wissenschaftler:innen, der Universität Tromsø (UiT) und der Universidad Complutense de Madrid (UCM) ist es ihm gelungen, in Simulationen nachzuweisen, dass der Kipppunkt beim Grönland-Eisschild temporär ohne irreversible Schäden überschritten werden kann.
„Wir haben dank unserer Simulationen gesehen, dass es möglich ist, das Abschmelzen des Eisschilds in Grönland trotz verfehlter Klimaziele zu stoppen und sogar umzukehren. Wichtig ist dabei, dass bei einer Überschreitung des Kipppunktes ein massives Gegensteuern und eine Abkühlung der Erde unter die kritischen Werte notwendig ist“, erklärt Prof. Niklas Boers.
Kein Freifahrtschein für ein „Weiter so“
Die neuen Erkenntnisse bedeuten aber nicht, dass die Gesellschaft sich auf dem bisherigen Klimaschutz ausruhen kann. Sie sind vielmehr als zweite Chance und Perspektive zu sehen. Für die Simulation nutzten die Forschenden zwei unterschiedliche Eisschildmodelle. Es wurde eine große Zahl von Szenarien berechnet, mit globaler Erwärmung zwischen 1,5 und 6,5 Grad Celsius bis 2100 und darauffolgender Abkühlung innerhalb von 100 bis 10.000 Jahren.
„Mithilfe von Supercomputern war es uns möglich, diese riesige Anzahl an Szenarien bis 100.000 Jahre in die Zukunft zu berechnen um wirklich sicher zu sein, dass der Grönland Eisschild im Gleichgewicht ist. Allerdings konnten wir in beiden Eisschildmodellen zeigen, dass sich das Eisschild erholen kann solange der kritische Temperaturgrenzwert nur für einen begrenzten Zeitraum von einigen Jahrhunderten überschritten wird“, so Nils Bochow, Wissenschaftler an der UiT und ebenfalls Mitglied am PIK.
Erholung möglich, aber nur mit Entschlossenheit
Voraussetzung für die Erholung des Eisschilds ist also die zeitnahe Korrektur der Temperatur auf der Erde im Zeithorizont von etwa 500 Jahren, abhängig davon wie weit die maximalen Temperaturen über den kritischen Wert steigen. Je weiter der Kipppunkt zeitlich und mit erhöhter Temperatur überschritten wird, desto schneller und drastischer müssen die Maßnahmen zur Abkühlung werden, und desto aufwändiger und teurer würden diese Maßnahmen.
Drastische Maßnahmen bedeuten unter anderem eine massive Verringerung der atmosphärischen CO2-Konzentration auf dem gesamten Planeten und damit die Senkung der globalen Temperaturen. Mithilfe von Techniken wie beispielsweise groß angelegter Aufforstung oder der CO2-Speicherung lassen sich solche Ziele erfüllen. Wandert die Erderwärmung nur leicht über die gesetzten Ziele des Pariser Klimaabkommens, muss laut den Berechnungen der Wissenschaftler:innen weniger stark nachgeregelt werden. Die neuen Erkenntnisse geben also Hoffnung, einen Weg zu finden, den Klimawandel noch zu stoppen, bevor auch die letzte Chance vertan ist.