Sie sind Zweitautorin der jüngst erschienenen, vielbeachteten Studie über die Bedrohung der biologischen Vielfalt, die Sie im Rahmen ihrer Forschung an der TU Berlin im Fachgebiet Landschaftsplanung und Landschaftsentwicklung initiiert haben. Wie kam es dazu?
Nach meinem Studium der Landschaftsplanung an der TU Berlin habe ich zunächst für die Weltnaturschutzunion (IUCN) an der Erstellung Europäischer Roter Listen gefährdeter Arten gearbeitet. Zurück an der TU Berlin habe ich dann zum Thema Key Biodiversity Areas in Europa promoviert, das sind Gebiete, die wesentlich zum Fortbestand globaler Biodiversität beitragen. Viele Empfehlungen und Erkenntnisse im Artenschutz basieren auf Beobachtungen von Vögeln und Säugetieren, da diese Artengruppen die meisten Ressourcen in Form von Expert*innen und Finanzierung vorweisen. Die Europäische Union hat deswegen ab 2006 das Aussterberisiko diverser anderer Artengruppen wie Fische, Insekten, Schnecken und Pflanzen untersuchen lassen. Bis 2020 konnten so 20 verschiedene, gruppenspezifische Europäische Rote Listen veröffentlicht werden. Einen Teil dieses Datenschatzes habe ich in meiner Promotion für die Identifizierung von potenziellen Key Biodiversity Areas verwendet. Während meiner Tätigkeit als Wissenschaftliche Mitarbeiterin am TU-Fachgebiet Landschaftsplanung und Landschaftsentwicklung habe ich mit den Co-Autor*innen der Studie auch den Datensatz in seiner Gesamtheit ausgewertet.
Die Studie kommt zu dem Ergebnis, das weltweit rund zwei Millionen Arten gefährdet sind. Das sind doppelt so viele wie in der jüngsten globalen Bestandsaufnahme des Weltbiodiversitätsrates (IPBES) 2019 angenommen. Wie sind Sie vorgegangen?
Der Unterschied resultiert aus der vorsichtigen Annahme des IPBES, dass ca. 10% aller Insektenarten gefährdet sind. In diese Schätzung waren bereits die Informationen aus den Europäischen Roten Listen für Bienen, Schmetterlinge, Libellen und Käfer eingeflossen, nicht aber die erst später veröffentlichten Erkenntnisse, dass 28% der Heuschrecken und Grillen Europas bedroht sind. Zudem liegt der Anteil an Arten ohne ausreichende Information (Data Deficient) bei 25 % für Wirbellose. Das heißt, in der Bewertung einer Bedrohungslage kann man konservativ nur die Arten heranziehen, die mit ausreichender Information als gefährdet eingestuft wurden. Wir gehen aber davon aus, dass unter den Data-Deficient-Arten ebenfalls gefährdete Arten sind. Am Beispiel der Bienen erklärt: Von 1.942 untersuchten Bienenarten in Europa sind 77 Arten als gefährdet eingestuft (4 %). Für 1.101 Arten ist die Datenlage nicht ausreichend für eine Bewertung. Beziffert man die Bedrohungslage mit 4 %, geht man davon aus, dass alle Data-Deficient-Arten ungefährdet sind, was sehr unwahrscheinlich ist. Deshalb rechnet man die Data-Deficient-Arten aus der Gesamtmenge heraus und schätzt im Ergebnis das Risiko für die gesamte Gruppe der Bienen realistischer Weise auf 9 %.
Wie hat das internationale Team zusammengearbeitet?
Für jede einzelne der von uns untersuchten 14.669 Arten haben hunderte, oft unbezahlte, Expert*innen aus Universitäten, Museen oder Botanischen Gärten zuvor in Europa Daten zu Verbreitung, Populationszustand, Lebensraumansprüchen, Bedrohungen und Forschungsbedarf in freien Texten und standardisierten Listen zusammengetragen. Anhand dieser Daten erfolgte dann eine entsprechende Einordnung in die Rote-Liste-Kategorien der IUCN. Dies geschah in digitaler Zusammenarbeit mit einem Online-Tool und in Workshops. Die gesammelten Informationen können für jede einzelne Art auf der Roten Liste gefährdeter Arten abgerufen werden. Die Auswertungen für die einzelnen Artengruppen wurden dann als Rote Listen veröffentlicht. Co-Autor*innen unserer Studie sind all diejenigen, die maßgeblich für eine der Artengruppen verantwortlich waren.
Die Studie ist aufgrund einer besseren Datenlage möglich gewesen. Welche Daten sind das und wie kommen sie zustande?
Die Europäische Union hat, wie gesagt, seit 2006 Rote Listen erstellen lassen. Es gibt Listen für Säugetiere, Amphibien, Reptilien, Fische, Schmetterlinge, Libellen, Käfer, Heuschrecken und Grillen, Süßwasser- und Landschnecken, medizinische Pflanzen, wilde Verwandte von Kulturpflanzen, Pflanzen der Feuchtgebiete, Pflanzen der EU-Fauna-Flora-Habitat-Richtlinie, Orchideen, Farne, Moose, Bäume und endemische Sträucher. Vor kurzem wurden Schwebfliegen untersucht und eine Rote Liste der Motten ist in Vorbereitung. Anhand dieser Listen sieht man einerseits die Vielfalt der untersuchten Gruppen. Man muss aber auch beachten, dass die Artenauswahl stellenweise politisch motiviert war bzw. sich an den verfügbaren Artenexpert*innen orientiert hat. Ornitholog*innen verfügen zum Beispiel über die meisten Ressourcen – Untersuchungen zur Lage der Vögel Europas finden deswegen regelmäßig schon seit 1994 statt.
Wo ist die Datenlage denn noch dünn?
Die Datenlage ist bei den Wirbeltieren generell besser als bei den Wirbellosen, wo insbesondere Bedarf an Grundlagenforschung zu den Populationsgrößen, der Verteilung und den Trends bestehts, also ob die Populationen zunehmen oder abnehmen. Es hat sich aber auch gezeigt, dass wissenschaftliche Veröffentlichungen helfen, die Ressourcen zur Datenerhebung und für den Artenschutz zu verbessern. Ein Beispiel ist die EU Pollinators Initiative zur Bedrohungslage der Insekten. Erhebliche Lücken gibt es zum Beispiel bei Pilzen. Es liegen kaum Erkenntnisse zu Pilzen und anderen Bodenorganismen vor, und auch nicht zu Wirbellosen der Meere. Letztendlich muss man sich vor Augen führen, dass die 14.669 untersuchten Arten nur ca. 10 % der gesamten Artenvielfalt Europas präsentieren. Unsere Erkenntnisse sollten breit angelegte Monitoring-Programme ergänzen, in denen vom Aussterben bedrohte Arten gezielt beobachtet werden.