Hoffnung und Resignation in Sachen Artensterben

Das Interview führte Barbara Halstenberg

Foto: TU Berlin

Sie sind Zweitautorin der jüngst erschienenen, vielbeachteten Studie über die Bedrohung der biologischen Vielfalt, die Sie im Rahmen ihrer Forschung an der TU Berlin im Fachgebiet Landschaftsplanung und Landschaftsentwicklung initiiert haben. Wie kam es dazu?
Nach meinem Studium der Landschaftsplanung an der TU Berlin habe ich zunächst für die Weltnaturschutzunion (IUCN) an der Erstellung Europäischer Roter Listen gefährdeter Arten gearbeitet. Zurück an der TU Berlin habe ich dann zum Thema Key Biodiversity Areas in Europa promoviert, das sind Gebiete, die wesentlich zum Fortbestand globaler Biodiversität beitragen. Viele Empfehlungen und Erkenntnisse im Artenschutz basieren auf Beobachtungen von Vögeln und Säugetieren, da diese Artengruppen die meisten Ressourcen in Form von Expert*innen und Finanzierung vorweisen. Die Europäische Union hat deswegen ab 2006 das Aussterberisiko diverser anderer Artengruppen wie Fische, Insekten, Schnecken und Pflanzen untersuchen lassen. Bis 2020 konnten so 20 verschiedene, gruppenspezifische Europäische Rote Listen veröffentlicht werden. Einen Teil dieses Datenschatzes habe ich in meiner Promotion für die Identifizierung von potenziellen Key Biodiversity Areas verwendet. Während meiner Tätigkeit als Wissenschaftliche Mitarbeiterin am TU-Fachgebiet Landschaftsplanung und Landschaftsentwicklung habe ich mit den Co-Autor*innen der Studie auch den Datensatz in seiner Gesamtheit ausgewertet.

Die Studie kommt zu dem Ergebnis, das weltweit rund zwei Millionen Arten gefährdet sind. Das sind doppelt so viele wie in der jüngsten globalen Bestandsaufnahme des Weltbiodiversitätsrates (IPBES) 2019 angenommen. Wie sind Sie vorgegangen?
Der Unterschied resultiert aus der vorsichtigen Annahme des IPBES, dass ca. 10% aller Insektenarten gefährdet sind. In diese Schätzung waren bereits die Informationen aus den Europäischen Roten Listen für Bienen, Schmetterlinge, Libellen und Käfer eingeflossen,  nicht aber die erst später veröffentlichten Erkenntnisse, dass 28% der Heuschrecken und Grillen Europas bedroht sind. Zudem liegt der Anteil an Arten ohne ausreichende Information (Data Deficient) bei 25 % für Wirbellose. Das heißt, in der Bewertung einer Bedrohungslage kann man konservativ nur die Arten heranziehen, die mit ausreichender Information als gefährdet eingestuft wurden. Wir gehen aber davon aus, dass unter den Data-Deficient-Arten ebenfalls gefährdete Arten sind. Am Beispiel der Bienen erklärt: Von 1.942 untersuchten Bienenarten in Europa sind 77 Arten als gefährdet eingestuft (4 %). Für 1.101 Arten ist die Datenlage nicht ausreichend für eine Bewertung. Beziffert man die Bedrohungslage mit 4 %, geht man davon aus, dass alle Data-Deficient-Arten ungefährdet sind, was sehr unwahrscheinlich ist. Deshalb rechnet man die Data-Deficient-Arten aus der Gesamtmenge heraus und schätzt im Ergebnis das Risiko für die gesamte Gruppe der Bienen realistischer Weise auf 9 %.

Wie hat das internationale Team zusammengearbeitet?
Für jede einzelne der von uns untersuchten 14.669 Arten haben hunderte, oft unbezahlte, Expert*innen aus Universitäten, Museen oder Botanischen Gärten zuvor in Europa Daten zu Verbreitung, Populationszustand, Lebensraumansprüchen, Bedrohungen und Forschungsbedarf in freien Texten und standardisierten Listen zusammengetragen. Anhand dieser Daten erfolgte dann eine entsprechende Einordnung in die Rote-Liste-Kategorien der IUCN. Dies geschah in digitaler Zusammenarbeit mit einem Online-Tool und in Workshops. Die gesammelten Informationen können für jede einzelne Art auf der Roten Liste gefährdeter Arten abgerufen werden. Die Auswertungen für die einzelnen Artengruppen wurden dann als Rote Listen veröffentlicht. Co-Autor*innen unserer Studie sind all diejenigen, die maßgeblich für eine der Artengruppen verantwortlich waren.

Die Studie ist aufgrund einer besseren Datenlage möglich gewesen. Welche Daten sind das und wie kommen sie zustande?
Die Europäische Union hat, wie gesagt, seit 2006 Rote Listen erstellen lassen. Es gibt Listen für Säugetiere, Amphibien, Reptilien, Fische, Schmetterlinge, Libellen, Käfer, Heuschrecken und Grillen, Süßwasser- und Landschnecken, medizinische Pflanzen, wilde Verwandte von Kulturpflanzen, Pflanzen der Feuchtgebiete, Pflanzen der EU-Fauna-Flora-Habitat-Richtlinie, Orchideen, Farne, Moose, Bäume und endemische Sträucher. Vor kurzem wurden Schwebfliegen untersucht und eine Rote Liste der Motten ist in Vorbereitung. Anhand dieser Listen sieht man einerseits die Vielfalt der untersuchten Gruppen. Man muss aber auch beachten, dass die Artenauswahl stellenweise politisch motiviert war bzw. sich an den verfügbaren Artenexpert*innen orientiert hat. Ornitholog*innen verfügen zum Beispiel über die meisten Ressourcen – Untersuchungen zur Lage der Vögel Europas finden deswegen regelmäßig schon seit 1994 statt.

Wo ist die Datenlage denn noch dünn?
Die Datenlage ist bei den Wirbeltieren generell besser als bei den Wirbellosen, wo insbesondere Bedarf an Grundlagenforschung zu den Populationsgrößen, der Verteilung und den Trends bestehts, also ob die Populationen zunehmen oder abnehmen. Es hat sich aber auch gezeigt, dass wissenschaftliche Veröffentlichungen helfen, die Ressourcen zur Datenerhebung und für den Artenschutz zu verbessern. Ein Beispiel ist die EU Pollinators Initiative zur Bedrohungslage der Insekten. Erhebliche Lücken gibt es zum Beispiel bei Pilzen. Es liegen kaum Erkenntnisse zu Pilzen und anderen Bodenorganismen vor, und auch nicht zu Wirbellosen der Meere. Letztendlich muss man sich vor Augen führen, dass die 14.669 untersuchten Arten nur ca. 10 % der gesamten Artenvielfalt Europas präsentieren. Unsere Erkenntnisse sollten breit angelegte Monitoring-Programme ergänzen, in denen vom Aussterben bedrohte Arten gezielt beobachtet werden.

Laut Studie sind 19 % der europäischen Arten vom Aussterben bedroht, wobei das Aussterberisiko für Pflanzen (27 %) und Wirbellose (24 %) höher ist als für Wirbeltiere (18 %). Wo sehen Sie hier die Verantwortung?
Knapp die Hälfte der untersuchten Arten sind nur in Europa heimisch, davon 2.125 bedrohte Arten, 86 % davon sind Wirbellose. Der Schutz dieser Arten und Maßnahmen zur Verbesserung ihres Zustandes sind unsere europäische Verantwortung. Unsere geographische Analyse hat insbesondere die Bedeutung von Lebensräumen der Berge herausgehoben, da hier viele endemische, also nur an diesen Orten vorkommende, Arten angesiedelt sind.

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Als größte Bedrohung und Ursache für das Artensterben sieht Ihr Team die intensive wirtschaftliche Nutzung von Landflächen und Meeren, die zum Verlust von Lebensräumen führt. Das EU-Gesetz zur Wiederherstellung der Natur oder der Beschluss der UN-Biodiversitätskonferenz in Montreal 2022 sollen mehr oder weniger verbindliche Schritte darstellen, um die Lage zu verbessern. Wie kann weiter und besser gemessen werden, ob sich die Lage dann tatsächlich verbessert?  

Wir wissen, welche Arten warum vom Aussterben bedroht sind, wo diese zu finden sind bzw. wo noch Forschungsbedarf besteht. Damit ist die Grundlage für Aktionspläne geschaffen. Die Umsetzung ist eine Frage des politischen Willens und der bereitgestellten Ressourcen. Ob ergriffene Maßnahmen erfolgreich waren, kann uns nur eine regelmäßige Evaluierung der Daten zeigen. Hierfür wurde der Rote-Listen-Index entwickelt. Europa geht einen wichtigen Schritt in diese Richtung, indem es bis Dezember 2024 ca. 10.000 der untersuchten Arten erneut evaluieren lässt.

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Welche Gründe gibt es noch für das Artensterben?
Weitere Gründe sind die direkte Nutzung von Arten, durch z.B. Überfischen, Jagen oder Sammeln von begehrten Pflanzen wie Orchideen oder medizinischen Pflanzen. Die Gewässerverschmutzung beeinträchtigt insbesondere Fische, Süßwasserschnecken und Libellen. Sie stellen auch die am stärksten bedrohten Gruppen in Europa dar: Süßwasserschnecken mit 59 % und Süßwasserfische mit 40 %. Einige Arten sind von einer extensiven Landnutzung abhängig und damit nicht nur von einer Intensivierung der Landwirtschaft bedroht, sondern genauso von der Nutzungseinstellung. Fehlen Mahd oder die Beweidung der Flächen, verbuschen diese und die Pflanzen sind nicht mehr konkurrenzfähig, die Insekten finden weniger Nahrung. Die Verdrängung durch invasive Arten oder Krankheiten führen ebenso zum Artensterben. Und sehr oft sind Wechselwirkungen im Spiel.

Wie wirkt sich die sich verschlimmernde Klimakrise auf das Artensterben aus?
Der Klimawandel wurde von einem Großteil der Experten als größte zukünftige Herausforderung erkannt. Veränderungen in den Temperaturverläufen führen zu Veränderungen in den Beziehungen von Pflanzen und ihren Bestäubern und Nahrungsgästen.  Höhere Temperaturen und veränderte Niederschlagsmuster beeinflussen die Ausprägung von Lebensräumen. Das wird einige Arten begünstigen, für spezialisierte Arten führt dies aber zum Lebensraumverlust. Dürren führen zum Verschwinden temporärer Feuchtgebiete und zu vermehrten Bränden. Die Auswirkungen sind auch hier vielfältig und komplex. Mir hat die Arbeit gezeigt, dass wir viele ökologische Beziehungen noch nicht verstehen und es daher wichtig ist, einen respektvollen Umgang mit der Natur zu pflegen und ihr den Raum für Entwicklung zugestehen. Jede Person kann den eigenen Ressourcenverbrauch hinterfragen und damit den Druck, den wir indirekt durch unsere Lebensweise auf Arten und Lebensräume ausüben, reduzieren.

Welche Hoffnungen zeigt die Studie auf?
Das Erheben der Daten und die daraus gewonnenen Erkenntnisse zum Artensterben halten uns als Gesellschaft weiterhin in der Verantwortung. Das Bekenntnis, das Artensterben aufzuhalten und umzukehren, ist politisch verankert – auch wenn der mangelnde Fortschritt stellenweise beschämend ist. Hoffnung geben mir die vielen engagierten Expert*innen, die unermüdlich zu ihren Arten forschen, sich untereinander vernetzen und sich für den Erhalt ihrer Arten einsetzen.

Wie sehen denn Aktionspläne zum Erhalt von Arten aus?
Da gibt es ein ganzes Portfolio, je nach den Ansprüchen der Art und den Bedrohungen, den sie ausgesetzt ist: Schutzgebietsausweisungen, Zuchtprogramme und Wiederansiedlungen, Förderung von Beweidung oder Fischfangquoten. Ich kenne aber auch eine sehr seltene Pflanze mit kleinem Vorkommensgebiet auf Korsika, bei der es geholfen hat, Zugänge von Bergsteiger*innen und Kletter*innen zu entfernen.

Was kann gesellschaftlich und von uns Bürger*innen gegen das Artensterben getan werden?
Ich persönlich nehme wahr, dass die Untersuchungen zum Insektensterben ein Umdenken in der Gesellschaft angeregt haben und vermehrt insektenfreundliche Blühpflanzen verwendet werden und sinnvoller gemäht wird. Das gibt mir Hoffnung.