Rede des Bundespräsidenten zum Ukrainekrieg

© Bundesregierung/Jesco Denzel

Seit 630 Tagen leiden die Menschen in der Ukraine unter dem russischen Angriffskrieg. 630 Mal aufwachen in der Ungewissheit, ob man obdachlos wird, einen Angehörigen verliert, fliehen muss. Der Krieg ist allgegenwärtig. Die Ukrainerinnen und Ukrainer leben mit der Angst, leben mit dem Gefühl ständiger, nicht endender Bedrohung, 24 Stunden am Tag. Gerade erst hat die russische Armee innerhalb von 24 Stunden so viele ukrainische Städte und Ortschaften beschossen wie seit Jahresbeginn nicht mehr. Viele von Ihnen kennen diese Orte, Sie kommen von dort und vertreten sie heute hier. Und dass Sie heute hier sind, ist alles andere als selbstverständlich. Viele haben eine beschwerliche mehrtägige Reise auf sich genommen. Und darum freue ich mich besonders, Sie heute hier begrüßen zu können. Herzlich willkommen Ihnen allen und ein besonders herzliches Willkommen denjenigen, die von weit her aus der Ukraine zu uns gekommen sind!

Die Bande zwischen unseren Ländern sind noch enger geworden seit dem russischen Angriff. Nicht nur zwischen den Regierungen, nicht nur zwischen Kyiv und Leipzig. Auch zwischen Baryschiwka und Pullach, zwischen Drohobytsch und Greifswald, zwischen Winnyzja und Karlsruhe, zwischen Korjukiwka und Waldkirch. Diese Beziehungen sind alles andere als abstrakt, sondern sie prägen den Alltag, sie verbinden die Menschen unserer beiden Länder.

Und solche Bande gab es schon vor Jahrhunderten. Viele Menschen in der Ukraine kennen Magdeburg – jedenfalls kennen sie den Namen der Stadt. Denn das „Magdeburger Recht“ ist eng verknüpft mit den Stadtgründungen in Osteuropa. Dieses Recht war seiner Zeit weit voraus. Es garantierte bereits im Mittelalter individuelle, bürgerliche Freiheiten und vor allen Dingen die Unantastbarkeit von Leib und Leben. Und leistete einen entscheidenden Beitrag zur Dezentralisierung und Entwicklung der kommunalen Selbstverwaltung; eine aus heutiger Sicht echte „europäische Rechtsquelle“. Das Magdeburger Recht verband Ost und West schon vor Jahrhunderten.

Es ist nicht zuletzt die Kraft der Städte, die Kraft der Gemeinden, die die Menschen zusammenbringt. Städte und Kommunen sind als kleinste Organisationsform unseres demokratischen Gemeinwesens so etwas wie die Keimzelle von Solidarität und Gemeinschaft. Deshalb haben Präsident Selensky und ich bei meinem Besuch in der Ukraine vor einem Jahr sehr bewusst einen gemeinsamen Appell gestartet, gerade jetzt in Kriegszeiten mehr kommunale Partnerschaften zu bilden. Und wir haben aus voller Überzeugung, Frau Ministerin Schulze, die Schirmherrschaft über das deutsch-ukrainische Städtepartnerschaftsnetzwerk übernommen. Und dafür, dass Sie das betreuen und den Städten und Gemeinden Hilfe leisten, vielen Dank!

Wie sehr Solidarität und Gemeinschaft zwischen unseren Kommunen gelebt werden, dafür stehen Sie alle, liebe Vertreterinnen und Vertreter aus Städten und Gemeinden aus der Ukraine, wie aus Deutschland.

Ich freue mich deshalb besonders, dass wir heute hier sind, lieber Burkhard Jung, in Leipzig, einem Ort mit einer lebendigen, vibrierenden Stadtgesellschaft. Hier fand die Friedliche Revolution 1989 ihren Schlüsselmoment. Zehntausende mutige Bürgerinnen und Bürger der DDR gingen auf die Straße, demonstrierten für die Freiheit. Die Bürgerrechtler von damals, sie haben seither die Menschen in Kyiv in ihrem Kampf für Freiheit unterstützt. 2004 schon, während der Orangenen Revolution, 2014 – ich erinnere mich selbst – auf dem Maidan. Ich weiß: Leipzig steht fest an der Seite seiner Partnerstadt Kyiv, seit über 60 Jahren. Es ist die älteste deutsch-ukrainische Städtepartnerschaft. Zwei Städte, die einander schon lange verbunden sind, auch durch ihre gemeinsame Geschichte, die eben geprägt ist von diesem Kampf gegen Unterdrückung und für die Freiheit.

Lieber Vitali Klitschko, bei meinem Besuch bei Ihnen in Kyiv im vergangenen Herbst habe ich mit eigenen Augen gesehen und durch Ihre Berichte gehört, wie sehr die Menschen in Ihrer Stadt unter dem Krieg leiden. Und ich habe gespürt, wie groß die Freiheitsliebe der Bewohnerinnen und Bewohner von Kyiv ist. Aber wahr ist auch: Dieser Krieg unterscheidet nicht zwischen Metropolen, Städten, Dörfern. Er trifft alle Menschen in der Ukraine.

Deshalb ist es so wichtig, dass Unterstützung nicht nur zwischen den Hauptstädten, nicht nur zwischen den Regierungen stattfindet. Sondern auch in der Wirtschaft, der Kultur, der Zivilgesellschaft, zwischen Städten und Kommunen. Sie vor Ort, Sie wissen am allerbesten, was notwendig ist, um schnell, gezielt und unbürokratisch Hilfe zu leisten. Ob in Ihrer ukrainischen Partnerstadt ein Krankenwagen oder Hilfe bei der Feuerwehr gebraucht wird oder Medikamente oder vielleicht jetzt im kommenden Winter wieder Wärmeinseln; oder auch umgekehrt: auch bei Fragen der Betreuung ukrainischer Flüchtlinge hier bei uns in Deutschland. Sie alle können sich auf die Expertise und Unterstützung Ihrer jeweiligen Partnerstadt verlassen.

Der nahende Winter wird erneut sehr schwer für die Ukraine werden. Daher die deutsche Initiative der Bundesregierung eines „Winterschutzschirms“, um ukrainische Infrastruktur, die Versorgung der Menschen mit Wärme und Elektrizität im kommenden Winter noch besser zu schützen. Das ist notwendig, denn wir alle wissen: Der Kreml nutzt auch Energie als Waffe. Und nicht nur das! Wir haben brutalste Methoden der Kriegsführung gesehen: Zwangsumsiedlung, Umerziehung, die Verschleppung von Kindern und auch offenen Terror. Die unerträglichen Bilder aus Butscha, Mariupol, aus Charkiw erzählen von dem Grauen und dem Leid.

Die deutsche Schriftstellerin Anne Rabe schreibt dazu in ihrem aktuellen Roman , der „Die Möglichkeit von Glück“ heißt, aber so viel von Unglück und Leid erzählt: „Der Terror soll […] den Widerstand der Zivilbevölkerung brechen. Damit die Gegenwehr aufhört.“ Aber die Gegenwehr in der Ukraine hört nicht auf. Die Menschen dort wissen: Es gibt keinen Frieden in Unfreiheit! Darum wird die Ukraine nicht aufhören für ihre Freiheit und Unabhängigkeit zu kämpfen. Und wir werden nicht aufhören sie zu unterstützen.

Wir in Deutschland dürfen nicht vergessen: Etwas mehr als ein Fünftel des Staatsgebiets der Ukraine ist besetzt. Fast jede Ukrainerin, jeder Ukrainer kennt jemanden, der in diesem Angriffskrieg sein Leben verloren hat. Die Schäden und Verletzungen, die Putins Truppen an der Psyche der Menschen anrichten, die Zerstörung, die sie im Land anrichten, können wir hier in Deutschland kaum erahnen.

Darauf kann es nur eine Antwort geben: Deutschland steht fest an der Seite der Ukraine – und wir bleiben an Ihrer Seite, solange es nötig ist!

Die Ukraine braucht unsere Unterstützung umso mehr, als nun auch im Nahen Osten Krieg herrscht, und der in der Ukraine nicht mehr die Aufmerksamkeit erhält, die er eigentlich so dringend braucht. Putins Kalkül ist doch: Die Welt soll die Ukraine vergessen. Ich sage: Diesen Gefallen dürfen und werden wir Putin nicht tun! Wir werden uns an Russlands völkerrechtswidrigen und menschenverachtenden Angriffskrieg nicht gewöhnen.

Wie groß die Solidarität, wie stark das Gefühl der Verbundenheit ist, das zeigen diese fast 190 Partnerschaften zwischen ukrainischen und deutschen Städten und Gemeinden. Was für ein starkes Zeichen, was für eine Welle der Solidarität. Eine Solidarität, die eben nicht von oben verordnet ist, sondern von ganz vielen getragen. Ich bin überzeugt: Es gibt keine langfristigere, keine nachhaltigere Unterstützung als diese unmittelbaren, diese persönlichen Bindungen zwischen den Menschen in den Dörfern und Städten in unseren beiden Ländern!

Diese Welle der Solidarität darf und wird nicht abebben. Im Gegenteil: Jetzt gilt es, die Partnerschaften zur verstetigen und auf langfristige Unterstützung zu setzen. Denn der Krieg ist eben nicht vorbei, nur weil die Schlagzeilen überlagert werden von anderen Konflikten. Es braucht diese engen Partnerschaften gerade auch mit Blick auf den Wiederaufbau. Diese Partnerschaften sind zukunftsweisend, sie gehen jetzt schon über den Krieg hinaus. Jede Städtepartnerschaft einer deutschen mit einer ukrainischen Gemeinde stärkt Verbindungen nach Europa. Jede dieser Städtepartnerschaften hilft, den Weg der Ukraine in die Europäische Union zu bereiten.

Die Botschaft, die von diesem Treffen hier in Leipzig ausgeht, lautet: Ihr in der Ukraine, Ihr steht nicht alleine! Auf uns ist Verlass. Das ist das Zeichen, das Sie alle mit dieser Konferenz hier in Leipzig senden. Und dafür möchte ich Ihnen als Präsident dieses Landes danken: Danke, dass auf Sie alle Verlass ist! Danke, dass Sie hier sind!